Claustria (German Edition)
labil. Wenn ich sie hinaufgelassen hätte, wäre sie wieder dem Alkohol und Drogen verfallen. Man wirft mir vor, ein überbehütender Vater gewesen zu sein, aber um über mich zu urteilen, hätten Sie sehen müssen, wie verwirrt sie damals war.“
Keiner hörte seinem Geschwätz zu. Der Trupp schob ihn vorwärts, damit er als Erster die letzte Schleuse passierte. Fritzl holte tief Luft, als er in die Speisekammer trat. Ein Hauch von früher, die sentimentale Erinnerung an Glücksmomente, Familienglück, alles Glück, das ihm durch seine Verhaftung für immer genommen war. Mit leicht zitternder Hand streichelte er die Wand, schloss die Augen. Er wäre im Stehen eingeschlafen, um besser träumen zu können, hätte der Inspektor ihn nicht mit einem Schlag auf den Rücken wieder aus seiner Träumerei gerissen.
Niemand wagte es, weiterzugehen, der unerträgliche Gestank zwang einige, zurückzugehen, um sich im Labyrinth zu übergeben. Aus Angst vor giftigen Ausdünstungen wich Gretel zurück. Er verbarg sich im Halbdunkel und hütete sich, einen Raum zu betreten, wo er obendrein noch einen Anfall von Klaustrophobie fürchten musste. Fritzl war ganz im Glück, er sog die Luft in vollen Zügen ein wie ein Gefangener, den man im Wald freilässt. Er begab sich an die Spitze des Trupps und machte sich daran, die Leute durch sein einstiges Reich zu führen.
„Natürlich hat man die Möbel und den Zimmerschmuck entfernt. Aber Sie müssen wissen, dass Angelika über allen modernen Komfort verfügte. Kühlschrank, Waschmaschine, Mixer, das neueste Modell, Farbfernseher, Videorekorder …“
Angewidert schnitt die Staatsanwältin ihm das Wort ab.
„Ein Videorekorder, auf dem Sie Angelika Pornofilme vorgespielt haben.“
„Es gab auch Kassetten mit Zeichentrickfilmen. Wie haben sie gelacht, wenn sie Donald Duck mit seinem riesigen Schnabel angeschaut haben!“
„Sie wissen sehr gut, dass die Polizei nicht einen einzigen Kinderfilm im Keller gefunden hat.“
„Ich hatte sie einen Monat zuvor herausgeholt. Petra und Martin waren zu alt dafür, und Roman sollte sich lieber Dokumentarfilme ansehen, um sich geistig harmonisch zu entwickeln.“
Ein blitzschneller Gang durch die Zimmer. Die Truppe macht kehrt und flüchtet aus dem Keller. Wer unten im Labyrinth noch nicht gekotzt hat, versteckt sich oben recht und schlecht und erleichtert sich an einem Baumstamm.
Gretels Frau konnte nicht mehr. Der Prozess machte ihren Mann reizbar, jähzornig, und es kam vor, dass er mit der flachen Hand heftig an die Wand schlug, wenn sie das Wort an ihn richtete.
„Ich warne dich – wenn du mich anrührst, zeige ich dich an.“
„Jeder hat das Recht, Wände zu schlagen und sogar Berge.“
Er kam abends spät nach Hause. Es war nach Mitternacht, als er ins Ehebett schlüpfte. Eine Viertelstunde lang drehte und wand er sich, als hätte man ihn auf einen Grillspieß gesteckt. Schließlich schaltete er die Nachtkästchenlampe an. Er machte sich Notizen in seinem Heft, von dem er sich Tag und Nacht nicht trennte: Ideen, Gedanken, Fragmente von Plädoyers, auch witzige Einfälle, die er im Verlauf der Sitzungen nach und nach von sich geben wollte, um die Presse zu amüsieren.
Gestört vom Licht und dem Scharren der Feder auf dem Papier, zog die Gattin zügig ins Wohnzimmer um. Mit einem Mantel als Decke auf den Beinen schlief sie auf dem Sofa.
Gretel besuchte Fritzl zweimal am Tag. Wenn seine Mitarbeiter es wagten, ihn wegen eines anderen Falles anzurufen, ließ er sie abblitzen. Er hatte sich angewöhnt, jeden Nachmittag Kuchen mitzubringen, den sie zusammen aßen, während sie sich über den Regen oder das gute Wetter unterhielten, ohne den Fernseher aus den Augen zu lassen, damit sie keinen Moment verpassten, in dem ein Foto von Fritzl oder das Gesicht des Anwalts auf dem Bildschirm erschien.
„Ich glaube, hier habe ich eines meiner besten Interviews gegeben.“
„Woher sie wohl dieses Foto haben?“
„Sie machen wirklich ein betretenes Gesicht.“
„Verlangen Sie, dass es nicht mehr gezeigt wird.“
„Ich werde mein Möglichstes tun.“
Gretel griff ein.
„Mit diesem Foto stellen Sie meinen Mandanten als Schuldigen dar.“
Er schickte eingeschriebene Briefe an die Presseagenturen, in denen er ihnen untersagte, von nun an bestimmte Bilder seines Mandanten zu verbreiten.
„Es gibt ein Recht auf das eigene Bild. Wenn Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, behalten wir uns rechtliche Schritte vor.“
Alles
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