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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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noch gar nicht. Komisch, aber in der ersten Zeit gab es nur Mäuse hier. Die Ratten haben sie wohl gefressen.“
    Er blieb nicht stehen, er ging weiter die Stufen hinab wie ein Lausbub, der sich aus dem Staub macht. Atemlos wartete er im Erdgeschoss auf mich.
    „Der Keller ist immer noch versiegelt. Ich konnte ihn selbst auch noch nicht sehen.“
    Neben der Treppe war eine Tür, die ich beim Eintreten nicht bemerkt hatte.
    „Und hier? Kann man hier rein?“
    „Wenn Sie wollen.“
    Wir betraten Fritzls Büro. An den Wänden waren helle Flecken der Regale, auf dem Boden die Abdrücke der vier Tischbeine. Man konnte auch sehen, wo sich die Sesselbeine befunden hatten – vier deutliche kleine Kreise, wo Fritzl immer gesessen hatte, und vier schwächere Vertiefungen, wo der Sessel den Rest der Zeit gestanden war. An der Stelle des Papierkorbs ein rostfarbenes Viereck.
    Der Anwalt setzte ein Knie auf und starrte es blinzelnd an, als wäre er geblendet.
    „Was wohl in dem Papierkorb war?“
    Als hätte er die ganzen Jahre über Beweismaterial hineingeworfen.
    „Das frage ich mich bei jeder Besichtigung.“
    Er erhob sich wieder und klopfte sich den Staub vom Knie.
    „Aber er hat sicherlich alles in kleine Fetzen gerissen, bevor er es weggeworfen hat. Vielleicht hat er den Papierkorb nie benutzt. Fritzl ist einer von denen, die ihr Geschmiere vernichten.“
    Er blieb eine kurze Weile reglos stehen, das Handy an seiner herabhängenden Hand leuchtete auf den Boden.
    „In einem der Schränke im ersten Stock hat die Polizei etwas vergessen. Ein kartonierter Schnellhefter, er war so verstaubt, dass er wohl für eine Abdeckung gehalten wurde, hinter der Rohre verlaufen. Ich habe ihn mit Benzin übergossen und in meinem Hof verbrannt.“
    „Wieso?“
    „Um keinen Ärger zu kriegen. In Österreich geht es keinem um die Wahrheit. Man will nur einen Kompromiss finden, um die Wogen zu glätten, und versuchen, es allen recht zu machen. Die Wirklichkeit ist etwas für Touristen, wir hier handeln lieber und beseitigen Beweise, die uns belasten könnten. Die Wirklichkeit hat uns immer enttäuscht. Der Niedergang der k. u. k. Monarchie, das Dritte Reich mit dieser Shoah, die man uns ständig und noch immer um die Ohren haut, und dann wurde Mozart auch noch zu einer Zeit in Salzburg geboren, als die Stadt gar nicht zu Österreich gehört hat. Was bleibt uns? Irgendwelche Perverse wie Egon Schiele oder Sigmund Freud? Die Wahrheit ist schlimmer als alles andere. Wer sie anfasst, verbrennt, erfriert, reibt sich die Finger wund. Unser Volk hat genug gelitten – Wahrheit, Wirklichkeit, nennen Sie es, wie Sie wollen, all dieses Zeug hat uns ausreichend geschadet, wir hassen sie wie die Pest.“
    Er leuchtete mir in die Augen, seine Stimme kam aus der Dunkelheit.
    „Ganz Europa verabscheut uns so abgrundtief, dass wir nach dem Krieg zusammen mit den Juden an das andere Ende der Welt hätten ziehen sollen. Wir hätten versucht, den Einheimischen dort einen Gefallen zu tun, und – wer weiß? – vielleicht wäre es uns gelungen, den Nahen Osten in eine Schweiz zu verwandeln mit Israel und Palästina als friedlichen Kantonen.“
    Er ließ die Hand sinken. Wieder beleuchtete das Display schwach das Zimmer. Er spürte, dass ich ihn gleich nach dem Inhalt der Aktenmappe fragen würde, und streckte die Hand aus, als würde er sich darauf vorbereiten, meine Frage abzuwehren wie eine Kugel.
    Er wedelte nervös mit dem Arm. Eine unkoordinierte Bewegung, bei der das Licht unkontrolliert in den Raum fiel. An der hinteren Wand war eine weitere Tür. Als das Handy sein Gesicht beschien, sah ich, dass seine Lider geschlossen und seine Lippen zusammengepresst waren. Die Worte, die er nicht aussprechen wollte, sammelten sich dahinter, als wollten sie bei der geringsten Lockerung des Kiefers heraussprudeln.
    „Und diese Tür?“
    Er schüttelte den Kopf und tauchte aus seiner Lethargie auf.
    „Was?“
    Ich tastete mich zur Tür.
    „Hier.“
    Er trat näher, drehte den Türknauf und stieß sie jäh auf. Sie öffnete sich einen Spalt, aber irgendetwas blockierte.
    „Sie haben die Kammer nicht mal geräumt, die Kieberer machen sich nicht gern schmutzig.“
    Er leuchtete hinein. Ein Berg Unrat von einem Meter Höhe. Alte Hamburger-Schachteln, Bier- und Coladosen, Flaschen mit verschimmeltem Fruchtsaft, Weinflaschen, braun verfärbte Unterwäsche, fadenscheinige T-Shirts, Hemdsärmel, Hosenbeine. Da lag auch eine Matratze, die so fleckig war, dass man

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