Claw Trilogy 01 - Fenrir
gepresst.
Endlich fand sie es. Die Bewohner hatten Stoff vor die Öffnung geheftet, um die Kälte wenigstens teilweise abzuhalten. Sie riss das Tuch weg und blickte nach draußen. Unten sah sie nicht den Fluss, sondern die Straße. Dort huschte etwas von Schatten zu Schatten. Der Wolfsmann? In einem Torbogen bewegte sich etwas, hielt wieder inne. Aus der Richtung der großen Kirche näherte sich jemand. Er ging zu dem Torbogen und kniete am Saum der Dunkelheit nieder. Sie schauderte, als sie ihn betrachtete. Er war schlank und dunkel, die Haare waren dick mit Pech eingeschmiert und standen starr nach oben. Außerdem hatte er sich etwas hineingeklebt. Federn. Schwarze Federn standen aufrecht und bildeten eine garstige Krone. Er war völlig nackt und hatte sich weißen Lehm und Asche auf den Leib geschmiert, dass er im Mondlicht hell schimmerte. Bleich wie ein Toter war er. In der Hand hielt er einen Bogen, auf dem Rücken trug er einen leeren Köcher. Das grausame Krummschwert, das sie in der Kirche beobachtet hatte, steckte in einer stumpfen schwarzen Scheide. Mit seiner Haut stimmte irgendetwas nicht. Sie schien sehr rau zu sein. Angestrengt blinzelte sie in der Dunkelheit. Nein, die Pocken waren es wohl nicht, aber sie war zu weit entfernt, um es genau zu erkennen.
Die Bewohner des Hauses strömten inzwischen über den Platz, die Frauen scheuchten die Kinder vor sich her. Dann betraten acht dänische Invasoren den Platz. Es waren große Männer, die Tätowierungen trugen. Der vorderste führte einen großen Schild, auf dem ein Hammer abgebildet war. Er hatte das Schwert gezogen und deutete auf den nackten Mann, um ihn vor irgendetwas zu warnen. Es sah nicht freundlich aus.
Der Mann achtete jedoch nicht auf ihn, sondern zerrte an etwas herum, das sich im Schatten befand. Es war ein Pfeil, der sich nicht lösen wollte. Als er kräftiger zog, kam der Wolfsmann zum Vorschein.
»Nein!«, rief Aelis, woraufhin der Mann in ihre Richtung blickte. Sie schlug sich die Hände vor das Gesicht und spähte zwischen den Fingern hindurch wie ein erschrockenes Kind. Der Mann jedoch stieß einen Jubelruf aus, als er sie entdeckte, und sprang auf das Haus zu. Der große Krieger mit dem Schild fluchte, während Aelis bereits durch den Raum stolperte. Sie verlor jetzt vollends die Fassung, warf den Webstuhl um und stürzte über Stoffballen, als sie eilig zum gegenüberliegenden Fenster kroch. Sie riss das Pergament ab, das es bedeckte, und blickte zum Fluss hinab. Das Wasser lag drei Mannshöhen entfernt unter ihr.
Sie konnte nicht springen, dazu konnte sie sich nicht überwinden. Unterdessen hörte sie, wie das Wesen mit leichten, schnellen Schritten das Stockwerk unter ihr betrat. Sie schob ein Bein durchs Fenster, zog es wieder zurück. Es war zu tief. Dann zog sie sich in den Raum zurück und sah sich um. Dort war die Luke, wo die Leiter angelegt war. Sie versuchte, die Leiter mit einem Tritt zu entfernen, doch sie war an den Balken festgebunden, und ein Messer, um die Seile zu durchtrennen, konnte sie nirgends entdecken. Als sie nach unten blickte, erinnerte sie sich an die Warnung des Wolfsmannes, ihr Gesicht zu verbergen. Dort unten, im fahlen Licht des tieferen Stockwerks gerade eben zu erkennen, war jemand, der ihren Blick erwiderte. Die Augen waren scharf und mitleidslos wie bei einem Vogel. Zunächst glaubte sie, er trüge eine Maske, doch als er den Fuß auf die Leiter setzte, konnte sie erkennen, dass sich unzählige winzige Narben über sein Gesicht, den Hals und den Oberkörper zogen. Es sah nicht nach der Lepra aus, denn stellenweise zeichneten sich die Narben sauber ab und erinnerten eher an große Nadeln, die sich in die Haut gebohrt hatten, denn an die Verwüstungen, die ein Gebrechen hinterließ.
Er blickte hoch und sprach sie auf Lateinisch an: »Wesen der Finsternis, Todesbringer, du wirst mir nicht entkommen.«
»Wer bist du?«
»Ein Ehrenmann.« Er sprang zur Leiter.
Aelis fiel. Sie hatte getan, was sie für unmöglich gehalten hatte, und sich mit den Füßen voran durch das Fenster gestürzt. Der Aufprall auf das Wasser tat weh, ihr Blick trübte sich, und sie konnte vorübergehend nichts sehen. Mühsam kämpfte sie sich an die Oberfläche zurück. Schwer und eng hingen ihr die Kleider um die Beine. Sie zog die Haube ab und warf sie weg. Das Schmelzwasser von den Hügeln war schrecklich kalt und trieb ihr den Atem aus dem Leib, doch die Strömung war zum Glück nicht stark. Stromaufwärts war die
Weitere Kostenlose Bücher