Claw Trilogy 01 - Fenrir
die schwarzen Banner hingen ein gutes Stück weit längs des Flusses schlaff in der stillen Frühlingsluft. Leshii schauderte, als er die Symbole auf den Wimpeln betrachtete, denn im Osten hatte er die Raben und Wölfe oft genug gesehen. Diese Wesen blühten im Gefolge der Nordmänner auf. Letzten Endes würde die Stadt fallen, aber es mochte wohl noch eine Weile dauern.
»Ist sie da drinnen?« Leshii sprach Lateinisch, denn dies war die einzige Sprache, die sowohl er als auch sein Begleiter beherrschten.
»So ist es vorhergesagt.«
»Viel Glück bei dem Versuch, sie herauszuholen. Einen Nordmann werden sie dort nicht willkommen heißen.«
»Ich werde sie nicht um ihre Gastfreundschaft bitten.«
»Es wäre besser, du zeigst dich den Leuten von deinem eigenen Volk und dringst mit ihnen in die Stadt ein, wenn sie angreifen. Das werden sie gewiss bald tun, ihr Heer ist groß.«
»Sie sind nicht von meinem Volk.«
»Du bist ein Nordmann, du bist ein Waräger.«
»Aber ich bin kein Däne.«
»Alle Waräger sind einander gleich, Chakhlyk. Däne, Nordmann, Wikinger, Normanne, Waräger – das sind nur verschiedene Begriffe für ein und dasselbe Volk.«
»Mein Name ist nicht Chakhlyk.«
»Aber deinem Wesen nach solltest du so heißen. In meiner Sprache bedeutet es ›der Trockene‹. Dein Name ist das Wort, mit dem dich die Männer rufen. Meine Mutter nannte mich Leshii, doch daheim rufen sie mich ›Maultier‹. Ich mag den Namen nicht, aber er passt, denn ich schleppe immer für diesen oder jenen irgendwelche Sachen – für Prinzen, Könige und mich selbst. Sie nennen mich ihr Maultier, also heiße ich so. Dich nenne ich Chakhlyk, also ist das dein Name. Der Name ist wie das Schicksal. Man kann sich das nicht selbst aussuchen.«
Der Nordmann schnaubte. Seit sie aus dem Osten herübergekommen waren, sah Leshii ihn nun zum ersten Mal lächeln.
Leshii betrachtete seinen geheimnisvollen Reisegefährten. Er fand dessen Gegenwart äußerst beunruhigend, und hätte ihm nicht Prinz Helgi der Prophet den Auftrag erteilt, diesen Mann nach Paris zu führen, dann hätte er sicherlich einen Vorwand gefunden, sich vor der Reise zu drücken. Auch Helgi war ein Waräger. Er beherrschte Ladoga, Nowgorod, Kiew und die umliegenden Länder der Rus. Er war sogar bis Byzanz vorgestoßen und hatte seinen Schild an das Tor genagelt, das die Stadt vor ihm versperrt hatte. Er war ein mächtiger Herrscher, und wenn er seinen Untertanen einen Befehl erteilte, taten diese gut daran, ihm zu gehorchen.
Leshii hatte sich nach dem Namen dieses fremden Mannes erkundigt, doch Helgi hatte ihm geantwortet, er besäße keinen, und deshalb habe er die Freiheit, sich einen auszudenken. So war er auf Chakhlyk verfallen, und dies war höflicher als alles andere, was ihm sonst noch hätte in den Sinn kommen können. Chakhlyk war nach den Maßstäben seines Volkes groß gewachsen, im Gegensatz zu den meisten anderen jedoch dunkel, schmal und drahtig. Leshii dachte bei seinem Anblick eher an etwas, das aus der Erde gesprossen war, vielleicht an einen verdrehten Baum, aber ganz gewiss nicht an einen Menschen.
Der Händler kannte jeden, den es jemals nach Ladoga verschlagen hatte, die meisten Bewohner des Nachbarortes Nowgorod und eine ganze Reihe weiterer Menschen weit unten in Kiew. Diesen Mann hatte er jedoch noch nie gesehen. Zuerst hatte er versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. »Ich mache in Seide, Bruder. Mit welchen Waren handelst du?« Der Mann hatte geschwiegen und ihn nur mit seinen tiefen dunklen Augen angeblickt. Nachdem der Prinz Leshii ohne jegliche Eskorte losgeschickt hatte, war ihm freilich rasch klar geworden, womit sich dieser Mann befasste. Er hatte es begriffen, als andere Händler, denen sie unterwegs begegnet waren, am Lagerfeuer von ihnen abgerückt waren, oder als neugierige Bauern in die Häuser gehuscht waren, statt mit ihnen zu reden, oder als Banditen aus den Hügeln herabgestarrt und nicht den Mut gefunden hatten, herunterzusteigen. Chakhlyks Geschäft war die Angst. Sie strömte aus ihm hervor wie der Moschusduft aus einem Tier.
Leshii hielt den Wolfsmann für einen wilden Priester aus dem Norden, obwohl er einem wie ihm noch nie begegnet war. Die Warägerkönige waren die wichtigsten heiligen Männer, doch viele seltsame Gestalten opferten in den Waldtempeln außerhalb von Ladoga ihren seltsamen Göttern. Ihre Symbole waren Hämmer und Schwerter, und dem Vernehmen nach benutzten sie bei ihren streng geheimen
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