Claw Trilogy 01 - Fenrir
seltsam vorgekommen, am Feuer zu sitzen und mit einem Mann zu reden, der zugleich ein Wolf war. Es war ihm nicht seltsam vorgekommen, als er dem kleinen Mädchen eines Tages nach einem Schwächeanfall das Blut gegeben hatte. Und es war beunruhigend, aber nicht absonderlich gewesen, dass kurz danach das Fieber über sie gekommen war.
Mit seinem kleinen Messer schälte er ein Stück Rinde vom Dach ab und schnitzte das Zeichen hinein, das der Fremde ihm gezeigt hatte. Da er nicht wusste, was er damit tun sollte, legte er es dem Mädchen einfach auf die Brust.
»Lügner«, sprach das Mädchen. »Wo bist du, Lügner?« Sie setzte sich aufrecht, presste die Borke an sich und starrte mit weit aufgerissenen Augen über die Stadt hinweg.
Sie waren nicht mehr allein auf dem Dach. Neben ihm und dem Mädchen hockte der Mann mit dem feuerroten Haar.
Er lächelte und sang:
»Wo am Zweige hängt
Vom Strang erstickt ein Toter,
Wie ich ritze das Runenzeichen,
So kommt der Mann und spricht mit mir.«
»Wer bist du?«, fragte der Heiler.
»Ich bin ein Fieber«, erklärte der bleiche Mann. »Ein Fieber, das die Knochen in dir entfachen wird.«
»Du bist ein Mensch. Ich habe dich schon einmal gesehen.«
»Pferdereiter, Zauberer«, entgegnete der Fremde. »Kehre zu deiner wahren Gestalt zurück.«
Das kleine Mädchen verstand die Bedeutung der Worte nicht, begriff aber, dass der Mann dem Heiler sagte, er solle wieder etwas werden, das er schon einmal gewesen war.
Der Heiler stieg durch das Loch im Dach hinunter, während der bleiche Mann sitzen blieb und die Hand des Mädchens hielt. Die Kleine regte sich und blickte zu ihm auf.
»Ich habe von dir geträumt«, sagte sie.
»Und ich von dir. Was habe ich in deinem Traum gesagt?«
»Mein Heim ist die Dunkelheit«, erwiderte sie.
»Ja.«
»Ich komme aus der Dunkelheit.«
»Ja.«
»Gibt es hier in der Nähe Dunkelheit?«
»Unter Gillingrs Grabhügel haben sie eine gefunden«, antwortete der bleiche Mann. »Willst du sie sehen?«
»Ich will sie sehen«, stimmte Sváva zu. »Ich kenne dich. Du bist der Wolfsvater. Der Herr des Todes.«
»Ja.«
»Alle sagen, ich habe ein tapferes Herz. Ich fürchte mich nicht vor dir.«
»Nein.«
»Was bin ich?«
»Ein kleines zerbrochenes Ding.« Der Mann umarmte das Mädchen.
»Werde ich wieder heil werden?«
»Zuerst brauchst du ein wenig Dunkelheit, damit das Licht in dir erstrahlen kann«, erklärte ihr der bleiche Mann. »Hast du Angst vor der Dunkelheit?«
»Nein.«
»Dann komm mit mir.«
Sváva stieg die Leiter im Ladeturm hinunter und ging an der Winde vorbei, mit der die Waren hochgezogen wurden. Dort hing der Heiler wie ein vergessener Sack an einem Seil. Hand in Hand mit dem bleichen Mann verließ sie die Stadt.
Sie liefen zum Grabhügel, zu dem nackten Grab, das sein schwarzes Maul zu den Sternen reckte. Zwei Mannshöhen weit unten herrschte eine tiefere Dunkelheit, dort war ein Loch.
»Die Römer haben hier nach Erzen gegraben«, erklärte der Mann. »Das Pech hat sie verfolgt. Viele starben durch Unfälle oder wurden absichtlich geopfert. Sie haben hier Merkur angebetet. Er lebte hier. Für euch gegenwärtige Leute ist es der alte Odin. Dies ist der richtige Ort.«
»Was für ein Ort?«
»Der vorbestimmte Ort. Hier sieht man die Dinge, die gesehen werden müssen.«
»Die Tunnel sind eine Stadt unter der Erde, und die Bewohner sind tot«, erklärte Sváva.
»Kannst du das jetzt schon erkennen?«, fragte der Mann.
»Ja.«
Die bleiche Gestalt zitterte und ließ ihre Hand los. »Bist du sicher, dass du keine Angst vor der Dunkelheit hast?«
»Nein«, antwortete sie. »Ich glaube, die Dunkelheit fürchtet sich vor mir. Siehst du, wie sie vor mir zurückweicht? Selbst dort drin will sie mir nicht begegnen.«
»Die Dunkelheit ist ein Wolf, der das Feuer flieht.«
»Ich bin ein Feuer.«
»Du bist ein Feuer.«
»Ich will mit diesen toten Leuten reden«, verlangte sie. »Die Geister müssen doch fröhlich sein, da sie kein Leben mehr zu verlieren haben.«
»Dann geh hinein.«
Das kleine Mädchen trat vor und bückte sich vor dem Loch. Dann ging es in die Hocke und kroch hinein. Der Gott lächelte sein Wolfslächeln und wandte sich ab.
In seiner großen Halle träumte Helgi von den vielen Opfern, die er Odin dargebracht hatte – die Krieger, die in der Schlacht gefallen waren, die Sklaven und das Vieh, das Gold, das er in den Sumpf geworfen hatte. Er sah sich selbst, wie er alles aufhäufte – die toten Tiere
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