Claw Trilogy 01 - Fenrir
dicht an seinem Ohr ließ ihn auffahren. Der Wolf hockte neben ihm! Der Heiler wollte schreien, doch jemand legte ihm eine Hand auf den Mund.
Dann hörte er eine Stimme: »Du wolltest ›Wolf‹ schreien, doch sag mir, welcher Wolf erschreckt dich? Derjenige, der am Feuer sitzt, oder der andere, der hier drinnen haust?« Er bekam einen kräftigen Stoß gegen die Brust, und als die Hand seinen Mund freigab, drehte er sich um und sah einen sehr seltsamen Kerl. Der Mann war groß, bleich und besaß keinen Bart. Ein Büschel roter Haare schaute aus dem blutigen, abgenutzten Wolfsfell hervor. Der Mann trug es, wie es der Heiler manchmal bei Schamanen gesehen hatte: mit dem Wolfskopf über dem Haupthaar, als sei das Tier über ihn gekrochen und habe ihm die Zähne in den Schädel geschlagen. Abgesehen von dem Fell war er völlig nackt. Auf der hellen Haut schienen sich im Feuerschein Schlangen zu winden.
Der Heiler sah sich nach dem Wolf um. Das Tier war verschwunden.
»Da war doch ein Wolf«, staunte der Heiler.
»Jetzt ist er hier.« Wieder tippte der Fremde dem Heiler mit dem Finger auf die Brust.
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, entgegnete der Heiler.
»Ehrgeiz ist ein Wolf, nicht wahr? Er hetzt uns zu wer weiß welchen Höhen. Also wiederhole ich es: Da ist der Wolf.« Abermals stach der Finger des Fremden fest auf die Brust des Heilers.
»Hör auf, mich so zu stupsen«, wehrte sich der Heiler. »Ich bekomme schnell blaue Flecken.«
»Hast du denn keine Salbe dagegen?«
»Nein.«
»Was kannst du überhaupt kurieren? Deinen Talismanen und Zaubertränken entnehme ich, dass du ein Heilkundiger bist.«
»Ich … «
»Kopfschmerzen?«
»Ja.«
Der Mann versetzte dem Heiler einen Schlag gegen den Kopf.
»Au!«
»Erbrechen?«
»Ja, ich … «
Der Mann verpasste dem Heiler einen kräftigen Hieb in den Bauch, dass diesem das Essen wieder hochkam und er benommen am Boden liegen blieb.
»Knochenbrüche?«
»Ich habe gewisse Fähigkeiten … « Der Fremde hob die Hand, doch der Heiler fügte rasch hinzu: »… aber nicht in dieser Hinsicht.«
»Ah, die Gabe des Heilens ist heute so selten. Es ist schwer, den Ehrlichen vom Scharlatan zu unterscheiden.«
»Ich bin ein ehrlicher Mann.«
»Die Ehrlichen sind die besten Lügner. Du bist der König der Scharlatane, weil du selbst der Erste bist, den du täuschst. Du bist in deiner Unaufrichtigkeit völlig aufrichtig. Lügner haben mehr Wahrheiten in sich als alle ehrlichen Menschen auf der Welt. Ihr belügt euch selbst so sehr, dass man euch die Lüge nicht anmerkt. Wenn ihr dann den Menschen sagt, ihr könntet sie heilen, kann das doch nicht falsch sein, denn ihr spürt ja die Wahrheit in euch selbst, also müssen auch die anderen euch glauben. Ihr fresst Lügen und rülpst die Wahrheit heraus, so ist es bei denen, die sich selbst täuschen. Aufrichtige Diebe sind immer die besten, das kann ich dir im Ernst sagen. Ich brauche den goldenen Ring, den du an der Halskette trägst. Gib ihn mir.«
»Wozu brauchst du ihn?«
»Um deine lügende Zunge zu kurieren.«
Der Heiler glaubte in diesem Moment tatsächlich, dies sei eine vernünftige Erklärung, und streifte die Kette ab, um sie dem Mann zu geben, der sie einen Moment über den Lippen baumeln ließ, ehe er sie in den Mund nahm und verschluckte.
»Das war mein Ring«, sagte der Heiler.
Der seltsame Mann beugte sich zu dem Heiler vor, und es schien, als gehörte sein Kopf einem riesigen Wolf, der das Maul unglaublich weit aufsperrte. »Jetzt verschönert er mein Gedärm. Greif doch hinein und kitzle ihn wieder heraus!« Er sprach mit solchem Nachdruck, dass der Heiler zurückzuckte.
»Du wirst mich in den Arm beißen.« Aus irgendeinem Grund kam es ihm gar nicht seltsam vor, dass der Fremde auf einmal ein halber Wolf war.
»Siehst du?«, antwortete der Halbwolf. »Ich habe den Lügner in dir kuriert, denn jetzt sprichst du die Wahrheit.«
»Was werde ich im Austausch für den Ring bekommen?«
»Einen Rat«, sagte der Mann mit dem Wolfskopf und schmatzte, als hätte ihm der goldene Ring sehr gemundet.
»Welchen Rat?«
»Gehe nach Norden.«
»Wozu?«
»Um dem Herrn der Täuschung zu dienen, der dort seine Lügen verbreitet. Dieser Verkünder der Verstellung, der Hierophant der Heuchelei, der legendäre Lügner, der raffinierte raubeinige Racker, der Fakir der Fälschungen, der Wolf im Wollhemd, der Eidbrecher, der gerissene Gott. König Scheiße persönlich. Ich bin sein Diener, musst du wissen,
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