Cleo
und probten gelegentlich ausgesprochen fantasievoll den Aufstand. Ich überlegte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis auch Sam und Rob mich mit solchen Mätzchen unterhalten würden.
Irgendwo im Haus klingelte ein Telefon. Jessies Mann Peter ging dran. Aus dem Hintergrund hörte ich seine Stimme. Kurz angebunden zuerst, dann bestürzt. Offenbar hatte er irgendwelche schlechte Nachrichten erhalten. Ich fragte mich, ob jemand aus seiner Verwandtschaft gestorben war, und setzte eine, wie ich hoffte, mitfühlende Miene auf, als er ins Schlafzimmer trat. Er wirkte blass und nervös, wie jemand, der sich in einer Tragödie wiederfand, in der er nichtmitspielen wollte. Er sah zuerst Jessie an, dann mich. Seine Augen waren kohlrabenschwarz. Der Anruf sei für mich, sagte er.
Das musste ein Missverständnis sein. Wer sollte mich bei Jessie anrufen? Es wusste doch kaum jemand, dass ich hier war. Verwirrt ging ich in die Diele und nahm den Hörer auf.
»Es ist furchtbar«, hörte ich Steve sagen. »Sam ist tot.«
Seine Stimme hallte über die Entfernung in jeder Zelle meines Körpers wider. Er klang gefasst, fast normal. »Sam« und »tot« waren zwei Wörter, die nicht zusammengehörten. Ich nahm an, dass er von einem anderen Sam sprach, einem alten Mann, einem entfernten Cousin, den er bislang nur noch nie erwähnt hatte. Ich hörte mich in den Telefonhörer schreien. Steves Worte schlugen wie Artilleriefeuer in meinem Kopf ein. Sam und Rob hatten unter der Wäscheleine eine verletzte Taube gefunden. Sam hatte darauf bestanden, sie zum Tierarzt zu bringen. Nachdem er am Tag zuvor den Disney-Film Mrs. Brisby und das Geheimnis von Nimh gesehen hatte, nahm ihn das Leiden eines Tieres noch mehr mit als sonst.
Steve war gerade dabei gewesen, einen Zitronen-Baiser-Kuchen fürs Mittagessen zu machen. Er hatte den Jungen gesagt, dass sie den Vogel selbst zum Tierarzt bringen müssten. Sie hatten ihn in eine Schuhschachtel gelegt und den Ziegenpfad hinuntergetragen. Dann waren sie über die Fußgängerbrücke zur Bushaltestelle auf der Hauptstraße gelaufen. Als die Jungen dort ankamen, war gerade ein Bus vorgefahren, der auf dem Weg nach oben war. Voller Ungeduld, weil er den Vogel zum Tierarzt bringen wollte, war Sam hinter dem stehenden Bus auf die Straße gerannt. Er wurde von einem Auto erfasst, das hügelabwärts fuhr.
Die Worte passten nicht zusammen, als wären sie Puzzlesteine aus zwei verschiedenen Puzzles. Eine grauenerfüllte Stimme, meiner in nichts ähnlich, brüllte ins Telefon und wollte wissen, ob Rob in Ordnung sei. Steve sagte, Rob ginge es gut, allerdings hatte er den Unfall gesehen und stand unter Schock. Erleichterung durchflutete mich.
Angeblich reagieren manche Leute mit Ungläubigkeit, wenn sie schlechte Nachrichten erhalten. Vielleicht lag es an Steves Schroffheit, jedenfalls drangen seine Worte sofort zu mir vor. Ein Teil meines Bewusstseins spaltete sich ab. Von der Decke in Jessies Haus sah ich zu, wie ich dort unten in der Diele stand und schrie und heulte. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Augenblick explodieren. Am liebsten hätte ich ihn gegen die Glasscheibe in der Haustür geschlagen, damit der Schmerz endlich aufhörte.
Gleichzeitig war ich mir der Widersinnigkeit der Situation bewusst. Ich hatte mit meinem Besuch Jessie aufmuntern wollen. Jetzt stand sie in ihrem weißen Nachthemd da und versuchte, mich zu beruhigen. Als Krankenschwester wusste Jessie, was zu tun war. Sie rief in der Notaufnahme des Krankenhauses an. Als sie sich erkundigte, ob Sam D. O. A. gewesen sei, entschlüsselte der logisch arbeitende Teil meines Gehirns die Abkürzung. Ich kannte sie aus meiner Zeit als Journalistenschülerin von nächtlichen Polizeistreifen. Dead On Arrival, tot bei Eintreffen. Resigniert legte sie den Hörer auf.
Ich heulte und tobte, der Trauer hilflos ausgeliefert. Einen solchen Schmerz konnte kein einzelner Mensch ertragen. Mein Leben war vorbei. Wie ein Akkordeon zog sich die Zeit zusammen und dehnte sich. Wir warteten auf Steve und Rob. Ich lehnte den angebotenen Tee und Schnaps ab, betrachtete das durch ein Fenster sickernde Licht und hörte zu,wie tief aus meiner Kehle das Brüllen aufstieg. Ein Teil von mir war erstaunt, welche Laute mein Körper bilden konnte und dass sie sich wie ein Refrain bis in alle Ewigkeit zu wiederholen schienen.
Ich versuchte mich Robs wegen zusammenzureißen. Das arme Kind hatte genug mitgemacht. Aber mein Körper und meine Seele
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