Cleo
hätte, dann hätte er den Rest seines Lebens nur noch dahinvegetiert. Mein Unterbewusstes schnappte sich sofort diesen Informationsschnipsel.
Tot. Leblos. Vorbei. So endgültige Wörter. Wenn unser Sohn wirklich tot war, dann hatte ihn jemand umgebracht. In mir schäumte es, ich suchte verzweifelt nach jemandem, dem ich die Schuld geben konnte. Einem Mörder, der bestraftwerden konnte. Ich bastelte mir im Kopf einen Filmbösewicht zusammen, einen Mann voller Hass, der schon viele Verbrechen begangen hatte. Es sei eine Frau gewesen, sagte Steve, eine Frau in einem blauen Ford Escort. Sie war nach der Mittagspause auf dem Weg zurück zur Arbeit. An ihrem Auto war wohl fast nichts zu sehen. Nur ein kaputter Scheinwerfer.
Ein kaputter Scheinwerfer für das Leben meines Kindes? Ich würde sie umbringen.
Ich stolperte den Ziegenpfad zu unserem Haus hinunter, es schien mir unfassbar, dass ich niemals mehr Sams Gewicht auf meinem Schoß, seine Arme um meinen Hals spüren sollte. Niemals war so endgültig. Rata begrüßte uns an der Tür, fragend sah sie mit schiefgelegtem Kopf zu uns auf. Ich umschlang heulend ihren Hals. Sie ließ den Kopf hängen, zog den Schwanz zwischen den Beinen ein und sank auf den Boden. Mir fielen Sams Worte wieder ein. Tiere wissen viel mehr …
Meine Hände zitterten, als ich den Hörer abnahm, um den schlimmsten Anruf meines Lebens zu tätigen. Meine Mutter klang unbekümmert, als sie sich meldete. Diese Nachricht ließ sich nicht schonend beibringen. Ihr geliebter Enkelsohn war gestorben. Ich hatte als Mutter versagt. Ich hörte, wie sie Luft holte. Ihre Stimme wurde hohl. Der kleine Teil in mir, der die Welt noch wahrnahm, war erstaunt, wie gefasst sie reagierte. Sie gehörte einer abgehärteteren, widerstandsfähigeren Generation an, die durch das Grauen des Zweiten Weltkriegs Strategien zur Bewältigung schlimmer Verluste entwickelt hatte. Sie unterbrach mein Schluchzen und Heulen und erklärte, dass sie sich sofort auf den Weg machen würde.
Ich befestigte die Superman-Uhr an Robs Handgelenkund warf mich auf Sams ungemachtes Bett, in dessen Laken und Decke noch immer die Form seines Körpers eingeprägt war. Ich wühlte mich in seine Kleidung, hörte seine Stimme in meinem Kopf. Steve führte mich ins Wohnzimmer und überredete mich, ein Glas Brandy zu trinken. Der Alkohol breitete sich warm in meinem Körper aus.
Eine gute Stunde später standen zwei junge, verlegen aussehende Polizisten vor unserer Haustür. Sie sagten, dass die Taube noch lebe, und fragten uns, was wir damit machen wollten. Irgendetwas stimmte mit der Welt nicht mehr. Wie konnte ein Vogel ein größeres Recht auf Leben haben als unser Kind? Steve erklärte ihnen, sie sollten die Taube zum Tierarzt bringen, so wie Sam es gewollt hatte. Dann sagten die Polizisten noch, dass einer von uns die Leiche im Leichenschauhaus identifizieren musste. Steve nahm es auf sich und ging mit ihnen.
Aschfahl kam er zurück. Sam sehe aus wie immer, sagte er. Wunderschön. Bis auf die Wunde an der Schläfe würde man ihm nichts ansehen. Es war nur eine kleine Wunde. Er hatte Sam eine Haarlocke abschneiden wollen, aber er hatte die Schere vergessen. Ich sehnte mich nach der Haarlocke, nach irgendetwas, das von Sam stammte, aber Steve war völlig fertig. Ich konnte kaum von ihm verlangen, dass er noch einmal zum Leichenschauhaus fuhr.
Dann stand Mum vor unserer Tür. Ein dreifaches Gewicht lastete auf ihr. Zu ihrer eigenen Traurigkeit kam auch noch die Sorge um uns, das wusste ich. Nach der fünfstündigen Fahrt musste sie außerdem müde sein. Ich rechnete damit, dass sie in Tränen ausbrechen würde, aber sie straffte die Schultern und reckte das Kinn in die Höhe. Schauspieler machen das manchmal, bevor sie auf die Bühne treten.
»Ich habe gerade eben einen wunderschönen Sonnenuntergang gesehen«, sagte sie. »Ein Feuerwerk in allen Rot- und Goldtönen. Das war bestimmt Sam.«
Wahnsinnig vor Schmerz empfand ich ihre Worte als reine Gefühllosigkeit. Wie konnte sie ihren Enkel nur mit einem Sonnenuntergang gleichsetzen?
Während sie ihre Koffer auspackte, traf der Bestattungsunternehmer ein. Die Hafenlichter blitzten boshaft hinter seinem Rücken auf, als er sich in eine Ecke des Wohnzimmers setzte und sich nach Sams Maßen, seiner Größe und Schulterbreite, erkundigte. Hatte er keinen eigenen neunjährigen Sohn, nach dem er sich richten konnte? Für Kinder wählte man bevorzugt weiße Särge, sagte er. Gab es etwa
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