Cleo
eigenen Willen, so dass er sich zum Beispiel aus seiner Klasse verabschiedete, wenn er dachte, mich auf dem Pausenhof gesehen zu haben, oder die Haare ganz kurz geschnitten haben wollte, als andere Jungen sie sich eifrig wachsen ließen.
Ich kannte und liebte jeden Teil seines Körpers, besonders die vermeintlichen Unvollkommenheiten: die Narbe über seiner linken Augenbraue, wo er als Zweijähriger gegen die Kante des Couchtischs gestoßen war; seine breiten Hände mit den abgekauten Fingernägeln, die Warze auf der Handfläche seiner rechten Hand. Ich liebte die Ecke, die ihm an einem Schneidezahn fehlte (Dreiradunfall), die Flecken, die seine Augen manchmal so weise wirken ließen, seine (oft rabenschwarzen) Füße und seine stämmigen sonnenverbrannten Beine. Ohne all das wäre er makellos gewesen, ein Engel, viel zu perfekt für diese Welt. Seine Kratzer, blauen Flecken und Narben ähnelten einem Geheimcode, den nurwir beide entschlüsseln konnten. Da ich Sam und seine Tierliebe und Clownerien kannte, wusste ich nicht recht, wie ich den Ernst, mit dem er seinen neunten Geburtstag beging, deuten sollte. Vielleicht wollte er beweisen, wie groß er geworden war.
Es klopfte an der Haustür. Sam und Rata trotteten den Flur hinunter, um aufzumachen.
Daniel schien sofort zu begreifen, dass das ein bewusst bescheiden gehaltener Geburtstag war. Die drei Jungen saßen am Küchentisch, Rata hatte strategisch geschickt Posten darunter bezogen, um sich ihren Anteil am Festmahl zu sichern. Ich knipste ein paar Fotos, während das Geburtstagskind seine neun Kerzen anzündete. Alle wirkten merkwürdig ergriffen und ernst.
Die Fotos, die ich Wochen später vom Fotolabor abholte, waren so dunkel, dass man fast nichts darauf erkennen konnte. Die Küche war an diesem Nachmittag von Sonnenlicht durchflutet gewesen, aber Sam war in Dunkelheit gehüllt, nur sein Umriss schimmerte golden. Vielleicht war ich einfach nur eine schlechte Fotografin. Vielleicht war es aber auch einer dieser übernatürlichen Tricks.
3
V erlust
Anders als Menschen sind Katzen
an plötzliche Verluste gewöhnt.
Die meisten Tage sind einander so ähnlich, dass sie noch vor Sonnenuntergang so gut wie vergessen sind. Einer nach dem anderen gehen sie ineinander über und werden zu Monaten und Jahren. Wir gleiten durch die Zeit und erwarten, dass nichts Unvorhergesehenes geschieht. Gefangen in dem immer gleichen Tagesablauf, zu dem das immer gleiche Frühstück, die immer gleichen Gesichter und die immer gleichen Schulfahrgemeinschaften gehören, sind wir irgendwann völlig eingelullt und glauben, dass unser ganzes Leben ohne größere Veränderungen seinen Gang nehmen wird.
Der einundzwanzigste Januar 1983 fing an wie jeder andere Tag. Nichts wies darauf hin, dass dieses Datum über uns hereinbrechen und unser Leben für alle Zeiten in zwei Teile zerreißen würde.
Nach dem Frühstück rauften die Jungs in ihren Schlafanzügen im Wohnzimmer miteinander, Rata spielte Schiedsrichter, und Steve hob die Badezimmertür aus ihren Angeln. Das war die letzte Tür, die in der Stadt ins Säurebad musste, und es war die meistumkämpfte. Keiner wollte in aller Öffentlichkeit pinkeln.
Türen sind schwerer, als man meint. Unterstützt von Rata, die uns zwischen den Beinen herumsprang, mussten wir zu viert anpacken, um sie den Ziegenpfad hochzutragenund im Kombi zu verstauen. Es war Januar – und das hieß in Neuseeland Sommerferienzeit. Die Jungen waren braungebrannt, ihre Haare von der Sonne ausgebleicht. Im Gegensatz zu mir wollten die beiden den Säurebademeister unbedingt kennenlernen. Sie quetschten sich neben die Tür auf die Rückbank, nachdem Steve sie festgezurrt hatte.
Steve ließ mich auf dem Weg in die Stadt bei meiner Freundin Jessie aussteigen, die in einem Vorort in den Hügeln wohnte. Ich drehte mich noch einmal um, um Sam zu sagen, er könne sich auf den Beifahrersitz setzen. Mit einem Lächeln verabschiedete ich mich bis nach dem Mittagessen von ihnen. Seine blauen Augen strahlten mich an, als er auf den Sitz neben Steve rutschte. Es gab keinen Anlass zu denken, dass es ein »nach dem Mittagessen« niemals geben würde.
Jessie erholte sich gerade von einer Grippe, sie war eine Woche im Bett gelegen. Wie eine viktorianische Romanheldin räkelte sie sich in ihrem weißen Nachthemd auf der Decke und genoss nach Kräften ihre Rekonvaleszenz. Wir aßen Suppe, plauderten und lachten über unsere Kinder. Ihre Jungen besuchten die Highschool
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