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Cleo

Titel: Cleo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Brown
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Himmel, die Reinkarnation oder das Internat von Doris Stokes glaubte. Ich konnte mir Sam nicht in einem Internat vorstellen, auch nicht in einem von Engeln geführten. Er würde die Regeln herauskriegen und sofort dagegen verstoßen, um hinausgeworfen und nach Hause geschickt zu werden.
    Auch wenn eine dieser anderen Wirklichkeiten existieren sollte, sei es in der Gegenwart oder in der Zukunft, hatte ich keinen Zugang. Was hätte ich für die enge Verbindung meines Vaters zur geistigen Welt gegeben. Eines seiner Lieblingszitate von Shakespeare lautete: »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt …«
    Mein Vater erzählte oft von der Nahtod-Erfahrung, die er als junger Mann auf einem Operationstisch gehabt hatte. Er sei durch einen Tunnel aus funkelndem Licht emporgeschossen, an dessen Ende einige wunderbare Leute auf ihngewartet hätten. Er sei überglücklich gewesen, dort zu sein, aber dann sagte eine sanfte Stimme: »Es tut mir leid, aber du musst zurück.«
    Als er durch den Tunnel zurück in die gewöhnliche Welt gewirbelt wurde, sei das die größte Enttäuschung seines Lebens gewesen, berichtete er. Diese Erfahrung hatte ihn offen gemacht für Geister, Naturgeister, Hexenbretter, einfach alles Übersinnliche, das nichts mit der »Kirchenheit«, wie er es nannte, zu tun hatte. Er kannte einfach zu viele Leute, die sich Christen nannten, aber keine der bewundernswerteren Eigenschaften von Jesus zeigten.
    Dad war gewiss ein außergewöhnlicher Mensch. Mit seinen kornblumenblauen Augen sah er durch die Menschen nicht hindurch, sondern vielmehr um sie herum. Wenn er mit jemandem redete, vermittelte er oft den Eindruck, gleichzeitig ein Gespräch mit den unsichtbaren Begleitern seines Gegenübers zu führen.
    Manche Leute würden sich freuen, wenn sie auf dem Golfplatz sterben. Mein Vater hatte etwas Vergleichbares während der Pause eines Konzerts zustande gebracht, auf das er Mutter und mich mitgenommen hatte, als die Kinder noch klein waren. Er hatte gerade sein Lieblings-Violinkonzert von Bruch gehört, drehte sich zu mir und sagte: »Also, die Akustik hier ist wirklich großartig.« Plötzlich sackte ihm das Kinn auf die Brust und er stöhnte laut auf. Ich legte meinen Arm um seine Schulter und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er hob den Kopf, blickte zu einem Punkt über der Bühne und lächelte verzückt. Dieses Mal sagte derjenige, der am Ende des Tunnels wartete: »Nun komm!«, und Dad folgte der Stimme ohne zu zögern.
    Für uns war es ein Schock, aber für meinen Vater hätte es keinen schöneren Tod geben können. Er war bereit gewesenzu gehen. Zu wünschen, er möge wiederkehren, wäre im Grund egoistisch gewesen. Aber bei Sam war es etwas anderes. Ich suchte nach Hinweisen, dass Sam noch unter uns weilte. Wenn sich ein Vorhang bauschte, musste irgendwo eine Tür geöffnet worden sein. Der Schatten an der Wand erinnerte mich an Sams Kopf, aber es war nur der Zweig eines Farnbaums, der sich vor dem Haus bewegte.
    Die einzige Botschaft von ihm war das Wort »Blödian«, das mit grünem Filzstift ganz oben auf der Wand in seinem und Robs Zimmer geschrieben stand und das Steve beim Tapezieren entdeckte. Sam hatte auf eine Leiter steigen müssen, um es schreiben zu können. Es war typisch für unseren Sohn, Erwartungen mit einem Witz zu begegnen. Wenn er uns überhaupt etwas damit sagen wollte, dann, dass wir dumm waren, weil wir uns in unserem Elend suhlten.
    Niemals. Sam würde niemals erwachsen werden und den Rausch der ersten Liebe erfahren, die Freude an der Geburt seiner eigenen Kinder. Für immer. Er war der Welt für immer verloren, für immer erinnert als das geliebte Kind, das niemals die Gelegenheit bekam, zum Mann heranzuwachsen. Die Worte wirbelten in meinem Kopf herum, bis ich schließlich zu dem Panoramafenster ging – das nicht ins Säurebad gebracht werden konnte, weil es fest in das Haus eingebaut war – und mit einem kleinen roten Farbabkratzer darüber herfiel. Niemals, für immer, niemals , bis mein Handgelenk schmerzte und meine Finger bluteten und zu brennen schienen. Der Blick durch das Fenster auf die Stadt, die Hügel und den Hafen kam mir wie eine Verhöhnung vor, aber der Rahmen musste bearbeitet werden. Mit jedem Kratzen legte ich eine weitere Schmerzschicht bloß. Vielleicht wäre mein Herz geheilt, wenn das Holz irgendwann nackt und glatt war. Einmal (war es Tag oderNacht?) führte mich Steve sanft von dem Fenster weg, das

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