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Cleo

Titel: Cleo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Brown
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Wieder würde mich jemand mit Kuhaugen ansehen, während ich berichtete, wie unsere beiden geliebten Söhne die Straße hinuntergingen und nur einer von ihnen zurückkam. Die Geschichte wieder und wieder zu erzählen, sie wie ein Kirchenlied in einer leeren Kathedrale zu rezitieren, erschöpfte mich. Ich wollte die Tränen nicht, wollte das betroffene Gesums nicht mehr hören.
    Vielleicht gehörte die Frau aber auch zu den Besuchern, die etwas zu essen brachten. Zahllose Teller mit Sandwiches, Muffins, Brathähnchen und Essen für jeden Geschmack waren in den letzten drei Wochen vor unserer Haustür abgestellt worden. Ich war den Köchen dankbar für ihren Sinn fürs Praktische und für ihre Zurückhaltung. Ihre schlichten Gaben waren eine willkommene Abwechslung zu all denTrauerbekundungen. Essen interessierte mich zwar nicht, aber irgendwohin verschwand der Inhalt dieser Teller doch immer.
    Auf unserer Küchentheke wurde der Tellerstapel derweil immer höher. Ich hatte keine Ahnung, von wem sie stammten, und sie machten mir ein schlechtes Gewissen. Vielleicht war die Frau vor unserer Tür nur eine dieser Wohltäterinnen, die genug Mut aufbrachte, um ihr Geschirr zurückzufordern.
    Nein, ich würde die Tür demjenigen, der hinter der Milchglasscheibe wartete, nicht öffnen. Sie oder er konnte das Essen, die Blumen oder die kitschige Beileidskarte auf der Fußmatte liegen lassen und in ein Leben ohne Schmerz zurückkehren.
    Gerade als ich mich in die Sicherheit der Küche zurückziehen wollte, klopfte die Gestalt erneut. Rata sprang bellend auf. Das war seit Sams Tod das erste Mal, dass sie etwas anderes als Winseln von sich gab.
    »Braves Mädchen!«, sagte ich und streichelte über das Fell auf ihrem Rücken. Sie machte einen Satz zur Haustür und wedelte mit dem Schwanz.
    Der Kopf hinter dem Glas drehte sich erwartungsvoll. Offenbar hatte er oder sie das Bellen gehört. Jetzt blieb mir nichts anderes mehr übrig. Die Tür nicht zu öffnen wäre schlicht und ergreifend unhöflich gewesen.
    Ich schob meine Finger unter Ratas Halsband und drückte auf die Klinke. Ein Sonnenstrahl blendete mich. Die anmutige Silhouette gehörte zu Lena. An ihrem langen, schlanken Arm hing ihr Sohn Jake, der im selben Alter wie Rob war.
    Die meisten Leute hatten ihre Kinder zu Hause gelassen. Mit Ausnahme von Robs ein, zwei engsten Freunden hattensich bislang keine Kinder zu uns getraut. Verständlicherweise. Schon der Tod seiner Großeltern überforderte ein Kind, um wie vieles mehr galt das für den Tod eines Gleichaltrigen. Wer konnte schon vorhersagen, welche Folgen das plötzliche Verschwinden eines anderen Kindes auf ihr noch nicht ganz ausgebildetes Nervensystem hatte? Außerdem wusste man nicht, ob so eine Tragödie nicht doch ansteckend war.
    Ich war mir meiner Reaktion auf die Kinder anderer Leute auch noch nicht sicher. Allein die Erwähnung eines Namens, vor allem die eines Jungen in Sams Alter, ließ bitteren Zorn in mir aufsteigen. Warum hat dein Kind das Recht zu leben und meines nicht?
    Lenas Sohn starrte erst mich an, dann Rata, die fröhlich in die Höhe sprang, um sich aus meinem Griff zu befreien. Er linste an mir vorbei in den Flur. Vielleicht würde das ein halbwegs normaler Besuch werden, zur Abwechslung einmal ohne das ewige »Es tut mir so schrecklich leid. Gib bitte Bescheid, wenn ich irgendetwas für dich tun kann«.
    »Möchtest du Rob besuchen?«, fragte ich das Kind schnell, falls Lena doch vorhatte, die erwartbaren Plattitüden von sich zu geben. »Er baut gerade eine Stadt auf dem Mond.«
    Jake stand da, ein kurzes Lächeln erschien auf seinen Lippen.
    »Du kannst auch aufs Klo, wenn du mal musst«, plapperte ich weiter und versuchte Rata davon abzuhalten, ihn völlig vollzusabbern. »Nur ist man da gerade leider nicht unbedingt für sich. Sie haben gesagt, dass die Tür in zwei Wochen abgebeizt wäre, aber es dauert eine halbe Ewigkeit. Hier geht es gerade drunter und drüber …«
    Lena beugte sich wie eine Weide über ihre Schultertasche, ein riesiger Patchwork-Beutel, extravagant und buntgenug, um von der Künstlerin selbst zu stammen. Sie griff hinein und beförderte ein kleines Lebewesen mit riesigen dreieckigen Ohren heraus. Es war schwarz und hatte kein Fell im eigentlichen Sinne, eher vereinzelte Fellbüschel. Vielleicht hatte sie ein Stofftier zum Trost für einen trauernden Jungen genäht.
    Als das winzige Ding den Kopf bewegte, zuckte ich zusammen. Seine Augen standen wie zwei Glasmurmeln

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