Cleo
keine Lösung bereithielt. Mein zweckloses, besessenes Kratzen war verstörend.
Die wenigen Male, die ich mich hinauswagte – in die unpersönliche Welt der Läden und Behörden –, hatte ich keine Skrupel, Wildfremden mein Unglück anzuvertrauen. »Mein Sohn ist gestorben«, erklärte ich der Frau hinter dem Postschalter. »Er ist vor drei Wochen überfahren worden. Er war erst neun.« Die Frau erblasste und wurde irgendwie länger und schmaler. Am liebsten wäre sie wohl hinter dem Poster verschwunden, das eine neue Briefmarkenserie bewarb. Sammlerstücke, ein wunderbares Geschenk für Freunde im Ausland, problemlos zu verschicken. Sie sah nervös zur Tür und sagte leise, das täte ihr leid. Ihre Stimme hörte sich unbeteiligt an. Was tat ihr leid? Dass ich sie dazu missbrauchte, um vor ihr mein schreckliches Schicksal auszubreiten, oder dass ich überhaupt in die Post gekommen war?
Einen Moment lang stieg heiße Scham in mir auf. Wie kam ich dazu, einen x-beliebigen Menschen zu belästigen, der nur seinen Lebensunterhalt verdienen wollte? Die Frau hatte allen Grund zu glauben, dass ich verrückt war oder log oder beides.
Dem Kassierer in der Bank erzählte ich es auch. Er reagierte ähnlich. Woher kam dieses Bedürfnis, Fremden meine klaffende Wunde vorzuführen? Ihren Schock und ihre Verlegenheit zu sehen, kann es nicht gewesen sein, dafür war das Gefühl der Befriedigung zu schwach. Ich muss irgendein Bedürfnis gehabt haben, mir einen neuen Platz in der Welt zu suchen, mir ein Etikett anzuheften, das für alle lesbar war, und mich letztlich dazu zu zwingen, das nicht Hinnehmbare hinzunehmen. Vielleicht gab es einen guten Grund dafür, dass die Trauernden früher ein Jahr lang Schwarz trugen.Es war ein Hinweis darauf, dass der Betreffende im besten Fall labil war.
Ich wollte zwar keineswegs ständig zu Hause hocken und jedem mitleidtriefenden Besucher ausgeliefert sein, aber ich war auch noch nicht bereit für die Außenwelt. Ich ging die Hauptstraße hinunter, weil ich nach Kleidung für unseren überlebenden Sohn suchte, Designermode für Kinder von so erlesener Qualität, dass er für immer geschützt und behütet war, und kam mir plötzlich verloren und völlig desorientiert vor. Fortgespült von einer Flut von unbekannten, anonymen Gesichtern, musste ich mich zusammenreißen, um nicht loszuschreien. Glänzende Schaufensterscheiben stürzten auf mich zu, drohten mich auf dem Bürgersteig zu zerschmettern. Meine Knie wurden weich. Eine Bekannte entdeckte mich und begleitete mich zu meinem Auto. Ich schämte mich für meine Schwäche, dankte ihr und schickte sie weg.
Nach Luft ringend saß ich hinter dem Lenkrad und sah mich plötzlich von außen. Ein eingefallenes Gesicht, umrahmt von Haaren, die in alle Richtungen abstanden. Als ich in den Rückspiegel sah, war ich erstaunt, darin eine junge achtundzwanzigjährige Frau mit roten Augen zu erblicken.
Wir versuchten, wieder ein wie auch immer geartetes normales Leben aufzunehmen. Erschöpft von meinem Heulen und Zetern, während er selbst schwer an seiner versteckten Trauer trug, packte Steve zwei Wochen nach dem Begräbnis seine Tasche und machte sich wie ein Schlafwandler auf den Weg, um eine Woche auf See zu verbringen. Ich hoffte, dass er durch den geregelten Tagesablauf auf dem Schiff zu Klarheit und Ruhe fand.
Einige Tage später hörte ich, wie an unsere Haustür geklopft wurde. Ich verbarg mich im Dämmerlicht am Ende des Flurs und versuchte die Gestalt hinter der Milchglasscheibeauszumachen. Die Silhouette schien zu einer Frau zu gehören, aber sie kam mir nicht bekannt vor. Sie hatte kurze, struppige Haare und war für eine Frau sehr groß.
Rob sah vom Küchentisch auf, wo er gerade mit seinen neuen Legosteinen eine Raumstation baute. In den letzten Wochen war er mit fröhlich verpacktem Spielzeug und Kleidung regelrecht überschüttet worden. Rata, früher ein zuverlässiger Wachhund, blieb auf der Schwelle zum Zimmer der Jungen liegen und spitzte ein Ohr. Sie war untröstlich und rührte sich seit dem Unfall kaum noch vom Fleck, hob nicht einmal mehr den Kopf. Wenn man versuchte, sie aufzumuntern, rollte sie nur traurig die Augen.
»Wir machen einfach nicht auf«, sagte ich. »Sie wird gleich wieder gehen.«
Ein neuer Besuch war so ziemlich das Letzte, was wir brauchen konnten. Ich war innerlich völlig taub und erschöpft und fühlte mich außerstande, ein Gespräch zu führen. Wieder würde ich die Geschichte erzählen müssen.
Weitere Kostenlose Bücher