Cleo
riss sie das Maul auf, legte zwei Reihen kleiner Dolche frei – und fauchte.
Rob, Rata und ich erstarrten. Cleos Fauchen war beängstigend urtümlich, wie das eines Python, der im nächstenMoment einen Hasen verschlingen würde, ein Fauchen, das Cleopatra selbst alle Ehre gemacht hätte, eines, das keinerlei Widerspruch duldete.
Rata wand sich in ihrem Halsband, dann ließ sie sich auf ihr Hinterteil fallen. Erschreckt von der Wildheit des Kätzchens ließ die alte Hündin den Kopf hängen und musterte den Boden. Sie machte einen enttäuschten und verwirrten Eindruck.
Dann begann ich zu begreifen. Ich hatte die Signale, die Rata ausgesandt hatte, die ganze Zeit über missverstanden. Sie hatte Lena an der Haustür begrüßen, nicht angreifen wollen, als sie sie angesprungen hatte. Und gerade eben hatte sie aus freudiger Erregung geknurrt und mit ihrem Bellen zum Spielen auffordern wollen. Aber nicht nur ich hatte Rata mit meiner Fehlinterpretation verletzt, sondern auch ein angriffslustiges Kätzchen, das nicht viel größer als ihre Vorderpfote war.
»Es ist okay«, sagte ich. »Bring Cleo her.«
Rob kam, Cleo in den Armen, zögernd zu uns herüber. Rata sah mit einem so sanften, freundlichen Ausdruck zu dem Kätzchen hoch, als wäre sie Mutter Teresa. Vorsichtshalber hielt ich sie trotzdem am Halsband fest.
»Siehst du? Rata hat nichts gegen das Kätzchen. Sie weiß nur nicht, wie sie sich mit ihm anfreunden soll. Setz Cleo auf den Boden, mal sehen, was sie macht. Ich werde Rata nicht loslassen.«
Rob trat ein paar Schritte zurück und setzte Cleo ab. Die Katze stand auf allen vieren und blinzelte ihren monumentalen Hausgenossen an. Rata legte den Kopf zur Seite, stellte die Ohren auf und winselte leise, als Cleo sich mutig auf sie zubewegte. Als sie schließlich bei Ratas Vorderpfoten angelangt war, blieb sie stehen und musterte das Monsterhundegesicht,das über ihr in der Luft hing. Dann drehte sie sich einmal um die eigene Achse und rollte sich wie eine Raupe zwischen Ratas gigantischen Pfoten zusammen.
Unsere Hündin bebte vor Freude, dass sie als die Supernanny, die sie war, erkannt wurde. Seit die Jungen Babys gewesen waren, hatte ich sie nie mehr so voller Mutterinstinkt gesehen. So, wie sie unsere Kinder immer beschützt hatte, wusste ich, dass ich ihr das Kätzchen bedenkenlos anvertrauen konnte.
Nicht nur unsere Herzen waren zu Matsch geworden, als Sam starb. Dank welchen hündischen Dechiffriersystems auch immer, Rata wusste, was mit Sam geschehen war. In gewisser Weise war Rata der Trauer noch viel hilfloser ausgeliefert als wir. Sie lag da und ließ die Stunden an sich vorbeiziehen, ohne sich durch Worte oder Tränen Erleichterung verschaffen zu können. Ein Tätscheln und ein beruhigendes Wort von uns schienen ihr nur für einen kurzen Moment Trost zu verschaffen. Aber das Kätzchen hatte die alte Hündin wieder zu Leben erweckt. Vielleicht hatte Ratas Herz genug Kraft, dass es sich noch einmal öffnen konnte.
Als ich ihr Halsband losließ, entrollte sich ihre Zunge wie eine Staatsflagge. Ohne auch nur zu zucken, ließ es unser kleiner Eindringling zu, dass er liebevoll vom Schwanz bis zur Schnauze und zurück abgeleckt wurde.
»Wo schläft Cleo heute?«, fragte Rob.
»Wir bereiten ihr in der Waschküche ein Bett. Ich suche eine Wärmflasche, damit sie es warm hat.«
»Das geht nicht! Sie vermisst bestimmt ihre Brüder und Schwestern. Sie wird Albträume haben. Ich will bei ihr schlafen.«
Seit dem 21. Januar hatte Rob die Wörter »vermissen«und »Bruder« nicht mehr in ein und demselben Satz gebraucht, nur die Superman-Uhr blieb wie festgewachsen an seinem Handgelenk. Tagsüber bot Rob die erstaunlich überzeugende Vorstellung eines Kindes, das ein völlig normales Leben führt. Nachts war es etwas anderes. Geplagt von Albträumen von einem Monster, das ihn in einem Auto jagte, wälzte er sich auf seiner Matratze in unserem Schlafzimmer im Schlaf hin und her.
»Für uns drei und die Katze ist es zu eng im Schlafzimmer«, sagte ich. »Abgesehen davon wird Cleo die ersten Nächte vielleicht unruhig sein, bis sie sich eingewöhnt hat.«
»Das macht nichts«, sagte er. »Sie kann zusammen mit mir in meinem alten Zimmer schlafen.«
Das Zimmer, das sich Sam und Rob geteilt hatten, war noch immer verwaist. An einem Nachmittag, der in seinem Grauen völlig surreal war und an dem ich mich wie eine Figur auf einem Gemälde von Hieronymus Bosch fühlte, hatten wir Sams Kleider und Spielzeug
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