Cleo
irgendwelche gedruckten Buchstaben, war sie erstaunt, wenn der Lesende sie hochhob und vorsichtig hinter dem Buch wieder absetzte. Wie konnte ein Menschensklave nur so grob sein? Wenn sie dann ihre Fassung wiedergefunden hatte, machte sie sich an die Untersuchung des Umschlags. Der war doch sicher nur aus Gründen der Körperpflege da. Cleo stellte nämlich fest, dass Katzen keine Zahnbürsten brauchten, wenn sie ihre Zähne am Pappumschlag eines Taschenbuchs entlangziehen konnten.
Wann immer wir weggingen, folgte uns von Robs Fensterbrett aus ihr anklagender Blick. Schlich die Zeit etwa nur noch, wenn wir nicht da waren? Von wegen! Kaum war die letzte Regenjacke den Ziegenpfad hoch verschwunden, sprang sie auf, um geheimen Katzengeschäften nachzugehen. Eine Topfpflanze kippte mysteriöserweise auf die Seite. Auf der Arbeitsfläche in der Küche tauchten verräterische Pfotenabdrücke auf. Halb aufgefressene Schmeißfliegen verteilten sich über den Teppich. Kurz gesagt, kaum waren wir Menschen aus dem Haus, tanzte die Katze auf dem Tisch. Aber immer wenn wir zurückkamen, saß Cleo wieder wartend am Fenster. Sie schien über einen eingebauten Radar zu verfügen, der ihr verriet, wenn wir im Anmarsch waren. Dann tänzelte sie in den Flur, um uns zu begrüßen, den Schwanz elegant in die Höhe gestreckt, und belohnte denjenigen, der sie auf den Arm nahm, mit einem Kuss ihrer feuchten, niedlichen Nase.
Wenn Hunde sprechen könnten, hätte Rata uns sicher viel zu erzählen gehabt. Sie bedachte einen Strang loserFäden am Sofa mit einem traurigen Blick und seufzte, als wollte sie sagen: »Was will man schon von einer Katze erwarten?« Aber sobald sich Cleo an den Bauch der Hündin kuschelte, wurde sie mit feuchten Retriever-Küssen bedacht, und alles war vergeben und vergessen. Wir waren einfach alle hingerissen von ihr, trotz ihrer Hochnäsigkeit und ihrer gelegentlichen Mordlust.
In demselben Maße, wie die Liebe zu unserer kleinen Katze wuchs, öffneten wir auch einander unsere Herzen und vergaben den Fremden, die wir nach Sams Tod geworden waren. Wir wandten uns einander zu und fühlten uns zunehmend wieder wie eine Familie, und noch einmal durchdrang Hoffnung und Zärtlichkeit unsere Ehe. Eines Abends kam Steve hinter seiner Zeitungsbarrikade hervor, sah mir in die Augen und sagte: »Du siehst so furchtbar traurig und schön aus.« Seine Worte überwanden die eisige Distanz zwischen uns und wärmten uns.
Ich hatte völlig vergessen, wie witzig er sein konnte. Dabei hatte sein schräger Humor uns überhaupt erst zusammengebracht. Wir waren beide Außenseiter, hoffnungslose Fälle beim Schulsport und mit einem besonderen Talent gesegnet, uns in größeren Gruppen linkisch zu verhalten. Daher schufen wir uns unser eigenes Universum und machten uns gegenseitig vor, dass es ganz wunderbar war, nicht dazuzugehören.
Verletzlich wie zwei Austern ohne Schale, machten wir uns in unseren dicken Wintermänteln auf den Weg ins Kino, unsere erste »Verabredung«, seit sich unser Leben so radikal verändert hatte. Ein umwerfend junger und erotischer Richard Gere in Ein Offizier und Gentleman nahm mich so sehr gefangen, dass ich, wie ich zunächst überrascht, dann schuldbewusst feststellte, ein paar Minuten nicht an Samgedacht hatte. Als der Abspann lief, das Licht anging und Joe Cocker »Up Where We Belong« anstimmte, brach die Wirklichkeit mit voller Wucht wieder über mir zusammen.
Bald darauf suchte Steve einen Spezialisten auf, um sich über die Aussichten einer Rückoperation seiner Vasektomie zu informieren. Man warnte ihn, dass es ein komplizierter mikrochirurgischer Eingriff mit minimalen Erfolgsaussichten sei, gerade einmal zehn Prozent. Aber nachdem der Chirurg sich unsere Geschichte angehört hatte, war er bereit, den Versuch zu unternehmen. Wir wollten beide unbedingt ein weiteres Kind, obwohl unsere Ehe schon längst auf der Kippe stand. Es wurde ein Operationstermin vereinbart.
Es ging uns nicht um einen Ersatz für Sam. Den zu finden war unmöglich, so viel war uns klar. Aber unser Haus und unsere Herzen wirkten so leer. Noch immer deckte ich abends regelmäßig den Tisch für vier, bis mir wie mit einem Donnerschlag wieder einfiel, dass das einmal gewesen war. Ein Besteck und ein Teller mussten zurück in den Schrank.
Ich ließ mich in meinen Kummer fallen, sehnte mich danach, zu vergehen und ins Vergessen zu gleiten. Wenn ein Herbstblatt die Erinnerung an den Sommer loslassen und mit so viel Anmut und
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