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Cleo

Titel: Cleo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Brown
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Windstoß, der direkt aus der Antarktis herüberkam, ließ den Hafen für einen Moment zu eisgrauem Stahl erstarren und verstreute die Vögel über den Himmel. Kein Wunder, dass Vögel den hellen Morgen mit jubelndem Gesang begrüßen. Sie wissen nichts mehr vom Sturm der vergangenen Nacht. Genauso wenig lässt ihr Chor Sorge vor dem bevorstehenden Winter erkennen. Sie würdigen nur das Wunder, in diesem Augenblick eines perfekten Herbstmorgens am Leben zu sein. Ich konnte vieles von ihnen lernen.
    Die Schönheit eines solchen Anblicks wurde noch vergrößert durch das Wissen, wie schmerzhaft kurz die Lebensspanne jedes Wesens ist. Vielleicht findet sich das wichtigste Heilmittel weder in Büchern, Tränen oder in der Religion, sondern in der Wertschätzung der kleinen Dinge – eine Blume, der Geruch von feuchtem Gras. Mir half die Zuneigung einer Katze, wieder Ja zum Leben zu sagen.

 
    14
    B eobachterin
    Eine kluge Katze hält sich mit ihrem Urteil zurück
    und beobachtet aus gelassener Distanz.
     
    Der erste Winter, der auf Sams Tod folgte, war besonders hart. Eine dichte weiße Schneedecke senkte sich über die Hügel um den Hafen. Riesige dunkle Wolken zogen von der Antarktis her auf und drängten an unsere Fenster. Regen prasselte gegen die Scheiben. Der Wind verfing sich in unseren Mänteln, wenn wir den in einen reißenden Sturzbach verwandelten Ziegenpfad hinuntereilten.
    Ich übte es regelrecht, wieder unter der Fußgängerbrücke durchzufahren. Das erste Mal schaffte ich es nur, indem ich mich auf einen dreieckigen Ausschnitt des Hafens in der Ferne konzentrierte und dabei den Atem anhielt. Als ich das nächste Mal langsam den Hang hinauffuhr, ließ ich meinen Blick einen kurzen Moment zu der Bushaltestelle wandern, wo Sams Fuß auf die Straße getreten war.
    Zögernd spitzte der Frühling mit gelben Blüten hervor. Um Sams letzte Schritte nachzuvollziehen, zwang ich mich, den Ziegenpfad hinunterzugehen und die verwitterten Holzbretter der Fußgängerbrücke zu betreten. In der Mitte blieb ich stehen und sah auf die Straße hinunter. Es war ein völlig banales Stück Asphalt. Keine Flecken, keine Löcher oder Unregelmäßigkeiten. Nichts, das darauf hinwies, dass hier ein Junge sein Leben verloren hatte. Ich hoffte, dass er nicht verängstigt und allein gestorben war.
    Ich gab es auf, die Straßen nach Mittdreißigerinnen mit mausgrauen Haaren mit oder ohne Brille und marineblauen Jacken abzusuchen. Mittlerweile musste ich auch nicht mehr die Scheinwerfer eines jeden blauen Ford Escort am Straßenrand einer Untersuchung unterziehen. Der Schaden wäre sowieso schon vor Monaten behoben worden. Wahrscheinlich fuhr das Auto völlig unbelastet durch die Weltgeschichte und tat so, als hätte es niemals einen Mord begangen.
    Mit dem herannahenden Sommer galt es, einige grauenvolle erste Male hinter uns zu bringen: Sams zehnter Geburtstag, bald gefolgt von dem ersten Weihnachten ohne ihn, dann jährte sich sein Todestag zum ersten Mal. Seither sehe ich dem Sommer nur mehr mit gemischten Gefühlen entgegen.
    Es kam vor, dass mich mein schlechtes Gewissen übermannte, wenn ich einige Minuten nicht an Sam gedacht hatte. Wenn ich laut lachte oder einen Moment lang glücklich war, hatte ich das Gefühl, Sam zu verraten. Aber nach und nach wurde mir klar, dass es Rob nicht guttat, wenn ich in diesem Zustand der Trauer verharrte, und es wurde auch der Zeit mit Sam nicht gerecht, von dem Umstand, dass ich noch am Leben war, nicht zu reden.
    Rob hatte sich wieder in seinen Schulalltag hineingefunden und dabei den Heldenmut eines Superman bewiesen. Die Lehrer klagten zwar nach wie vor über seine Lernschwierigkeiten, aber das Wichtigste war doch, dass er offenbar viele Freunde gefunden hatte. Steve und ich waren zwar nicht gerade frisch verliebt, aber wir hatten einige unserer Unterschiede akzeptiert, so dass wir besser miteinander auskamen. Cleo erinnerte uns daran, dass das Leben viel zu tiefgründig war, um es zu ernst zu nehmen, wenn siewieder einmal hinter einer Tür hervorsprang und über uns herfiel.
    Ich konnte Cleos Vorliebe für höher gelegene Plätze gut nachvollziehen. Selbst wenn sie sie nur ihrer abessinischen Herkunft zu verdanken hatte, die Vorstellung, sich ein Stück über den Alltag zu erheben und von dort oben auf die Welt hinabzusehen, hatte etwas Bezwingendes. Nichts anderes tat ich, wenn ich nachts bis zur Spitze des Ziegenpfads ging, wo mir der kalte Wind um die Nase pfiff, und auf die glitzernde

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