Cleo
Brandung herumzutollen, baute er ganze Städte inklusive Abwassersystem und Brücken. Dass sich ein solches Kind kaum in Strumpfhosen quetschen und darum betteln würde, den Prinzen in Schwanensee mimen zu dürfen, musste ich erst noch begreifen. Immerhin war er bereit, es mit der Schule zu versuchen.
Die nächste große Aufgabe bestand darin, jemanden zu finden, der vertrauenswürdig und liebenswert war, keinerlei Fehler hatte und sich darüber hinaus um Lydia kümmern wollte. Jim hatte mir zwar flexible Arbeitszeiten versprochen, aber ich wusste, dass ich mich trotzdem jeden Tag in der Redaktion sehen lassen sollte. Der Gedanke, die damalseinjährige Lydia einer Fremden anzuvertrauen, tat mir im Herzen weh.
Ich erklärte der Vermittlungsstelle für Kindermädchen, dass ich eine Kreuzung zwischen Mary Poppins und Jungfrau Maria suchte. Die Dame dort lachte, aber es war nicht das zynische Lachen von jemandem, der mir im nächsten Moment eine als Kindermädchen verkleidete Kinderschänderin andrehen wollte. Es war das glockenhelle Lachen des Wiedererkennens. »Genau eine solche Frau haben wir in unserer Kartei«, sagte sie. »Sie heißt Anne Marie und ist erstaunlicherweise sogar gerade frei. Allerdings habe ich schon etliche Bewerbungen für sie. Aber vielleicht haben Sie ja Glück und sie entscheidet sich für Sie.«
Wir hatten ein Bewerbungsgespräch bei einem Kindermädchen?
Anne Marie konnte erstklassige Referenzen vorweisen. Sie war auf der prestigeträchtigen Norland Nanny School in London ausgebildet worden und hatte vier eigene Kinder großgezogen.
Als sie in ihrem fleckenlosen rosa-weißen Kostüm vor unserer Tür stand, erstarrte ich fast vor Ehrfurcht. Ihre Schuhe waren weiß wie frisch gefallener Schnee. Aber der Blick aus ihren braunen Augen war liebevoll, besonders als sie Lydia sah. Lydia strahlte Anne Marie an und schlang ihre dicken Ärmchen um ihren Hals, was mir einen Stich versetzte; ich war eifersüchtig wie wohl jede arbeitende Mutter, die ihr Kind einem Kindermädchen anvertraut.
Einen Tag lang harrten wir ängstlich einer Antwort, dann rief Anne Marie an und teilte uns mit, sie habe sich für uns entschieden.
Ich war überglücklich, wieder in einer Zeitungsredaktion zu arbeiten. Es war mir gar nicht bewusst gewesen, wie sehrich die schrägen Typen, die Zeitungsredaktionen bevölkern, vermisst hatte. Wie ein verirrter Wanderer, der zu seinem Stamm zurückgefunden hatte, gehörte ich wieder dazu – neben all den anderen merkwürdigen Gestalten, die Journalisten geworden waren, weil kein anderer Arbeitgeber ihre Schrulligkeiten akzeptiert hätte.
Ich mochte Mary, eine glamouröse irische Moderedakteurin voller Selbstzweifel, und Colin, den verführerisch melancholischen Rockmusik-Redakteur, an dem die Frauen wie Leukoplast klebten. Tina, verantwortlich für die Features, war ziemlich überspannt und bekam gelegentlich oscarverdächtige Wutanfälle. Manchmal gewährte sie uns aber auch einen Blick hinter ihre Eisfassade, hinter der ein großes reines Herz pochte.
Nicole von der Fernsehseite war schön und blond und hatte Beine, die sie Marlene Dietrich geklaut haben musste. Zuerst glaubte ich, Nicole würde sich nicht mit gewöhnlichen Sterblichen abgeben. Aber sie hatte genau wie ich als Teenager geheiratet und steckte gerade mitten in einem Scheidungskrieg inklusive Schlacht ums Sorgerecht. Sie hatte wie alle hier ihre Macken und Verletzungen, aber wenn sie sich einmal in eine Story verbissen hatte, ließ sie nicht mehr los. Ich bewunderte sie alle.
Mit das Tollste war, dass ich mich wieder richtig anziehen konnte. Die letzten zehn Jahre hatte meine Garderobe aus Jogginghosen, Umstandskleidern und Bademänteln bestanden (in erster Linie in Grau, Schwarz, Braun). Es war wunderbar, in ein fuchsienrotes Kostüm mit einer kobaltblauen Schleife zu schlüpfen, auch wenn das, rückblickend betrachtet, natürlich das reinste Augengift gewesen sein muss. Gab es etwas Schöneres, als jeden Morgen Make-up aufzutragen und in hochhackige Schuhe zu schlüpfen? Ich fühlte michwie Aschenbrödel, das gerade erfahren hatte, dass der Ball noch gar nicht vorbei war. Die Musik war lauter, die Gäste verrückter und man hatte mich aufgefordert zurückzukommen, damit ich meine Glas-Pumps Größe 41 ½ einsammeln und zurück auf die Tanzfläche gehen konnte.
Da ich ganz allgemein für Features zuständig sein sollte, war ich für jeden Auftrag zu haben. Ich wäre selbst für eine Story über
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