Cleopatra
einer halben Flasche Rioja auf den Balkon. Ich aß das Beefsteak, schaute bei den Flugstunden der jungen Amseln zu und dachte daran, dass es nur wenig gab, was ich in meinen Bericht hineinschreiben konnte. Ich konnte ein paar Ideen notieren, Kleinigkeiten, denen ich zu meiner eigenen Gewissensberuhigung nachgehen musste, doch es gab nur wenig Sinnvolles zu tun, solange nicht bekannt war, zu wessen Körper das unvollständige Skelett unter dem Tennisplatz gehört hatte. Ich machte mir keine Illusionen, dass ich schneller dahinter kommen könnte als die Polizei mit ihren Computernetzwerken, Krankenhausdaten und Archiven vermisster Personen. Wobei Letztere wiederum chaotisch genug waren. Dutzende von Menschen, die in Wirklichkeit tot oder vermisst sind, sind bei den Einwohnermeldeämtern nur als ›unbekannt verzogen‹ registriert, so wie all die anderen Leute, die einfach zu faul oder zu schlampig sind, sich abzumelden, wenn sie an einen anderen Ort oder ins Ausland ziehen. Als Datum ihres Wegzugs wird dann meistens der Zeitpunkt vermerkt, an dem die neuen Bewohner oder die Nachbarn beispielsweise eine Wahlbenachrichtigung zurückschicken. Das kann unter Umständen zwei Jahre später sein.
Aber wahrscheinlich war alles ganz einfach und keineswegs rätselhaft. Hugo Balde hatte eins seiner Opfer unter dem Tennisplatz verscharrt und die Frau des Hauses war zufällig ein paar Jahre vorher mit dem Flugzeug abgestürzt. So what? Meulendijk blieb auf der Sache sitzen, aber er musste etwas unternehmen, um sein Honorar zu rechtfertigen. Wir werden ein paar unserer besten Leute auf den Fall ansetzen, Meneer. Oder Mevrouw. Und ein paar Wochen später: Hier ist der Bericht, Sie sehen, alles in Ordnung. Sie haben nur die Flöhe husten hören. Aber wer hatte sie husten hören? Helene? Cleveringa selbst? Die alte Glinka? Moment mal.
Der Auftrag musste praktisch direkt nach der Entdeckung des Skeletts erteilt worden sein, noch bevor jemand auf die Idee gekommen war, dass es sich um das Opfer eines Serienmörders handeln könnte. Das konnte bedeuten, dass der Auftraggeber der Meinung war, er habe die Frau unter dem Tennisplatz möglicherweise gekannt. In diesem Fall kam der Auftrag nicht von außen, sondern aus dem inneren Kreis. Dem Cleveringa-Kreis.
Ich sah vorerst noch keine Verbindung zur ersten Ehefrau. Cleopatra war bei einer spektakulären Flugzeugkatastrophe ums Leben gekommen. Sie war nicht identifiziert worden, aber man hatte ihr Gepäck gefunden. Konnte es jemand anders aus dem Kreis sein? Ich kannte diesen Kreis nicht, noch weniger konnte ich wissen, ob jemand fehlte. Zwanzig Jahre zurück. Zum jetzigen Zeitpunkt konnte ich nicht mehr tun, als zum Appell zu rufen und zu überprüfen, ob alle anwesend waren oder ob, falls jemand fehlte, sein Aufenthaltsort offiziell bestätigt war – dieser zähe Prozess des Ausschließens verschiedener Möglichkeiten, mit dem Sherlock Holmes berühmt geworden war.
Ich verließ gerade widerwillig meinen Balkon, als das Telefon klingelte. »Max Winter.«
»Cleveringa. Sie sind heute Nachmittag in Buchenstein gewesen?«
Helene hatte meine Karte anscheinend doch nicht liegen gelassen, um sie von der Putzfrau in den Müll werfen zu lassen. »Ja, ganz richtig.«
Am Telefon klang seine Stimme aggressiver als im Fernsehen. »Ich bin morgen am frühen Nachmittag zurück. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir uns irgendwo treffen würden.«
Ich ahnte, dass Ärger auf mich zukam. »Gern.«
»Ich bin etwa um zwei Uhr bei einem Freund von mir in Amsterdam, Scholte Verlag an der Koningslaan.«
»Ich kann auch nach Buchenstein kommen, wenn Sie wollen.«
»Nein. Koningslaan. Bis morgen dann.«
Klick.
Auch der Verlag war in einem stattlichen Herrenhaus untergebracht. Ein Mädchen mit langem flachsblonden Haar und Hornbrille öffnete die Tür und begrüßte mich, als würde sie mich schon seit Jahren kennen.
»Ah, Herr Winter. Sie kommen früh.«
Ich folgte ihr durch einen Marmorflur. Hier und dort lehnten Stapel neuer Bücher an der Wand. Türen standen offen und gaben den Blick frei auf Räume mit noch mehr Büchern, Papieren und verlassenen Schreibtischen. Wahrscheinlich waren alle beim Mittagessen. »Welche Art von Büchern verlegen Sie?«, fragte ich.
»Wissenschaft, Politik, Soziologie, Medizin. Inzwischen auch populärwissenschaftliche Werke. Nach oben, bitte.«
Sie ging mir auf der weiß gestrichenen Treppe mit dunkelrotem Läufer voraus. Sie hatte sehr dünne Beine.
Sie klopfte an
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