Cleopatra
brachte. Ich sah eine Meeresbucht umringt von niedrigen alten Gebäuden, Häusern, einer kleinen Terrasse, einem Sonnenschirm und davor ein paar kleine Fischerboote, ein Stück Anlegesteg. Ein kleines Fischerdorf an einer sonnigen Mittelmeerküste, ziemlich stümperhaft fotografiert, ohne Vordergrund, um dem Bild Tiefe zu verleihen, nicht von einem Schiff aus, sondern von einem höheren Standpunkt aus aufgenommen, wahrscheinlich von einer Seitenwand der Bucht.
Ich drehte die Karte um.
Es war keine Bildbeschreibung darauf gedruckt, nur Views from Malta. Abgestempelt war sie in Valletta, der Hauptstadt von Malta, mit einem undeutlichen Datumsstempel. Der Tag war unlesbar, durch Abnutzung oder zu wenig Tinte, aber der Monat war 12 und das Jahr 1990. Die Adresse von Irene in einer runden, routinierten Handschrift und auf der anderen Hälfte, neben Views from Malta, nur zwei Worte: ›Lieb und Lück‹.
Ich blickte Irene fragend an.
»Deshalb weiß ich, dass sie von Clara kam«, sagte Irene.
Lieb & Lück.
»Halt mal deine Hand auf«, sagte sie. »So, mit der Handfläche zu mir.« Ich gehorchte und sie schlug mit ihrer Handfläche gegen meine. »Lieb und Lück«, sagte sie. »Liebe und Glück«, sagte ich.
Sie strahlte, als hätte ich eine besondere Leistung vollbracht. »Das war unser Motto, seit wir junge Mädchen waren. Es war etwas, das nur uns gehörte. Deshalb bin ich mir sicher, dass es nur Clara sein kann. Wir haben uns auch noch an dem Abend, als sie wegfuhr, so voneinander verabschiedet, draußen im Schnee, an ihrem neuen Auto. Lieb und Lück.«
»Und was stand auf den anderen Karten?«
»Dasselbe, einmal im Jahr, kurz vor Weihnachten.«
»Haben Sie nie versucht, sie aufzuspüren? Malta liegt schließlich nicht am anderen Ende der Welt.«
»Ich wüsste nicht, wie ich das anstellen sollte.« Sie wies mit dem Kinn hinüber zum Rathaus. »Ich schaue mir Prospekte von Malta an. Die Hälfte der Bevölkerung wohnt in Valletta, das ist die Hauptstadt. Sie könnte ja auch einen anderen Namen angenommen haben. Ich sage immer zu Leo, lass uns dort doch mal Urlaub machen, mit den Kindern zusammen, man weiß ja nie. Aber er hat Recht und das ist mir auch klar. Sie will überhaupt nicht, dass ich sie besuche, sonst hätte sie mir doch ihre Adresse geschickt.«
»Hat sich Clara je das Bein gebrochen?«, fragte ich.
Sie schaute mich überrascht an. »Wie kommen Sie denn darauf?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ein Skelett wurde gefunden, das man anhand eines Beinbruchs zu identifizieren versucht. Es lag im Garten von Cleo, der Freundin von Clara. Es bestand eine geringe Wahrscheinlichkeit … Aber diese Frau wurde dort 1983 begraben, und wenn Sie 1990 noch eine Karte von Clara bekamen, kann sie es nicht sein.«
»Diese Karten stammen von Clara«, sagte Irene. »Und Clara hat sich nie das Bein gebrochen. Ich kenne sie seit ihrem zwölften Lebensjahr, also müsste es davor passiert sein und davon hätte ich bestimmt einmal etwas gehört. Das Einzige, was sie sich einmal gebrochen hat, war ein Finger.« Irene zog am Mittelfinger ihrer linken Hand. »Als sie achtzehn war.«
Von gebrochenen Fingern hat man wenig, wenn die Hände fehlen.
Irene schaute auf die Uhr. »Ich muss jetzt nach Hause. Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß. Was wollen Sie jetzt machen?«
»Sie arbeitete doch bei einem Rechtsanwalt in Utrecht.«
»Brinkman.« Sie streckte die Hand nach dem Foto und der Ansichtskarte aus, aber ich hielt sie fest.
»Darf ich sie eine Weile behalten?«, fragte ich. »Sie bekommen sie wieder zurück.«
Sie zögerte nicht lange. »Wenn die Sachen Ihnen helfen. Werden Sie Clara suchen?«
Ich schob das Foto und die Karte zwischen die Seiten meines Notizbuchs und steckte es weg. »Ich kann noch nichts dazu sagen. Aber Sie haben mir sehr geholfen. Vielen Dank!«
Ich stand auf und gab ihr meine Karte. Irene drückte mir die Hand, beugte sich dann plötzlich nach vorne und küsste mich auf die Wange. »Bitte melden Sie sich bei mir«, sagte sie, »was immer Sie auch finden.«
Ich nickte und sie ließ mich los, winkte dem Kellner, der zu uns rüberschaute, und ging eilig davon. Marga stand unter der Dusche, als ich im Dunkeln den Bauernhof betrat. Dampfschwaden wallten aus der offenen Badezimmertür und über das Rauschen des Wassers hinweg hörte ich sie Amazing Grace singen.
Ich habe einen Schlüssel zum Seiteneingang, brauchte ihn aber wie immer nicht zu benutzen. Gelegentlich versuche ich ihr klarzumachen,
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