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Cleopatra

Cleopatra

Titel: Cleopatra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Thijssen
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haben die ganze Nacht geredet, aber nicht über Stakie.«
    Wir schwiegen beide eine Weile, als würden wir von der Gruppe Demonstranten abgelenkt, die in diesem Moment mit Fahnen und Transparenten von der Straße aus zum alten Stadttor auf den Platz strömte und auf dem Bürgersteig gegenüber begann, Flugblätter auszuteilen. Den Transparenten sowie den Fetzen empörter Parolen aus den Lautsprechern auf einem Auto, das dem Zug voran kroch, war zu entnehmen, dass es um eine Protestaktion wegen der Schließung irgendeiner Fabrik ging.
    »Ich weiß nicht, warum«, sagte Irene. »Aber ihr Verschwinden macht mich traurig. Ich vermisse sie. Erst dachte ich, ihr müsse etwas Schlimmes zugestoßen sein. Doch bestimmt ist gar nichts geschehen, sie ist einfach nur weggegangen. Ich verstehe nur nicht, warum sie so geheimnisvoll tat, als dürfe niemand etwas von ihrer Hochzeit wissen.«
    »Woher wissen Sie, dass sie einfach nur weggegangen ist?«
    »Sie hat mir Karten geschrieben.«
    »Ansichtskarten?«
    »Jedes Jahr eine, zu Weihnachten.«
    Ich sah meine wacklige Theorie über Clara unter dem Tennisplatz in sich zusammenstürzen. »Bis heute?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Bis vor etwa acht Jahren. Vielleicht hat sie mich vergessen, so geht es nun einmal.«
    Auf der anderen Straßenseite erreichten die Fahnenschwenker das Hotel Regina und verschwanden in einer Nebenstraße. Der Lärm ebbte ab. Ein blonder Mann stand auf dem Bürgersteig vor dem Hotel und schaute in unsere Richtung.
    »Es stand nie ein Absender drauf«, -sagte Irene.
    »Woher wissen Sie dann, dass sie von ihr stammten?«
    Der Mann auf der gegenüberliegenden Seite hob die Hand, als grüße er jemanden auf unserer Seite des Platzes und verschwand im Hotel. Ich schaute zur Seite, sah aber niemanden, dem er hätte zuwinken können. Vielleicht saß seine Freundin hinter einer Fensterscheibe.
    »Es ist ihre Handschrift. Warten Sie …« Irene nahm ihre Tasche von dem leeren Stuhl neben sich. »Ich habe eine bei mir.« Sie wühlte in der Tasche, die groß genug schien für eine ganze Sammlung von Andenken. »Ich trage immer alles Mögliche mit mir herum«, sagte sie in einem Ton, als wolle sie sich dafür entschuldigen, dass die Vergangenheit von größerem Interesse für sie war als die Gegenwart.
    Sie zog eine dicke, verschlissene Brieftasche heraus mit einem Gummi darum, das sie mit einer routinierten Bewegung herunterrollte und um ihr Handgelenk schob. Sie kramte zwischen den Fotos, Karten, Hochzeitsanzeigen und ramponierten Einladungen herum. Dann fand sie das Foto, das sie suchte, und zog es aus dem Stapel.
    »Das bin ich mit Clara«, sagte sie. »Leo hat es aufgenommen, als sie zum letzten Mal hier war.«
    Die beiden Freundinnen nebeneinander vor einem Fenster mit einem verschneiten Garten dahinter. Ich starrte Clara an. Leo hatte einen Blitz verwendet, um das kalte Winterlicht auszugleichen, das durch das Fenster hinter den Frauen ins Zimmer fiel. Dadurch wirkte Claras Gesicht bleicher, als es wahrscheinlich in Wirklichkeit gewesen war.
    Auf die Rückseite war ein Datum gekritzelt. Januar 1980. Das rätselhafte Jahr, das immer wieder auftauchte. Clara war damals sechsundzwanzig. Eine schöne junge Frau; sie lächelt in die Kamera und der grellweiße Blitz verhindert, dass man mehr in ihren Augen ablesen kann. Da ist nur das Lächeln in ihrem Gesicht, das dem Fotografen oder dem Augenblick gilt. Das Bild kann keine Auskunft darüber geben, ob sie vielleicht weiß, dass dies ein letzter Moment ist, dass sie ihre Freundin nie mehr wieder sehen wird, oder ob sie vorausahnt, dass sich schon bald alles ändern wird.
    »Sind Sie gleich groß?«
    Irene lehnte sich zu mir herüber, um mit mir zusammen das Foto betrachten zu können. »Ich bin etwas größer, aber sie trug hohe Absätze. Clara ist einen Meter neunundsechzig.«
    »Blonde Haare?«
    Irene kicherte. »Nicht so blond, wie sie hier aussehen. Sie blondierte sie etwas, seit sie in Holland wohnte.«
    »Gute Figur.«
    »Besser als meine. Sie war immer die Schönste. Sie sieht ein bisschen aus wie Jodie Foster.«
    Ich sah, was sie damit meinte. Clara besaß dieselbe runde Gesichtsform, denselben Augenaufschlag, vielleicht auch dieselbe Stimme mit dem eigentümlichen metallischen Beiklang und unter dem engem schwarzen Pullover bestimmt einen Körper, der Gartenzwerge des Nachts auf Plattenwegen in Erregung brachte.
    Der sanfte Druck gegen meinen Arm ließ nach, als Irene eine abgewetzte Ansichtskarte zum Vorschein

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