Cleopatra
ihr Vater die Fingerspitzen gegen die Stirn, als müsse sie nachdenken. Sie hatte die gleiche hohe Stirn wie er, jedoch ohne die Beule.
»Sie hätten vorher anrufen sollen«, sagte sie dann. »Ich habe die Putzfrau da. Außerdem …« Sie geriet durcheinander. »Vielleicht können wir irgendwo … Um zwölf Uhr muss ich Winfried aus der Kinderkrippe abholen und Cleo aus der Schule.« Sie schaute auf die Uhr. »Ich muss jemandem absagen.«
»Wenn es Ihnen heute Nachmittag besser passt …«
»Heute Nachmittag habe ich Winfried. Die Krippe ist nur vormittags geöffnet. Wenn Sie unten aus der Haustür kommen, ist ein Stückchen weiter auf der rechten Seite ein Lokal. Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen.«
Es klang, als wolle sie nicht mit mir auf der Straße gesehen werden.
Ich fand das Lokal sofort und wählte einen Tisch am Fenster, hinter einem hölzernen Rankgitter mit Kletterpflanzen mit Blick auf das Ijsselmeer, diesmal jedoch auf den Boulevard und die gezähmte See. Außer mir waren keine anderen Gäste da. Die junge Kellnerin brachte mir gerade meinen Kaffee, als ich Lonneke in ihrem blauen Ensemble den Boulevard entlangkommen sah, eine Handtasche unter dem Arm. Es war etwas Resolutes und Entschlossenes in ihrem Gang, als habe sie eine Entscheidung getroffen. Ein zufälliger Passant hätte sie für die Benelux-Salesmanagerin eines großen amerikanischen Unternehmens für teure Elektronik halten können.
Ich stand auf, als sie hereinkam. Sie gab mir die Hand, als sähen wir uns hier zum ersten Mal. »Max Winter«, sagte ich hastig.
»Lonneke Cleveringa.«
»Nicht Wolffraat?«
»So heißen meine Kinder.«
»Darf ich Sie Lonneke nennen?«
Sie nickte, setzte sich und nahm die Handtasche auf den Schoß. Die Serviererin kam und Lonneke bestellte Kaffee.
»Sie machten den Eindruck, als hätten Sie jemanden vom Büro Meulendijk erwartet«, begann ich. »Hat Ihr Vater Ihnen Bescheid gesagt? Oder Ihre Stiefmutter?«
»Stiefmutter? Also bitte.«
»Dann eben Helene.«
Sie schwieg, während die Serviererin den Kaffee vor sie hinstellte. Dann begann sie, die Zuckerwürfel aus dem Papier auszupacken und sagte: »Ich habe sie nie Mutter genannt und böse Stiefmütter gehören ins Märchen.«
»Und da gehört Helene nicht hinein?«
»Ganz bestimmt nicht.« Sie schwieg einen Augenblick. »Am Anfang hatte ich natürlich Probleme mit ihr. Welches Kind hätte die nicht, wenn eine andere Frau den Platz der Mutter einnimmt. Aber Helene ist okay.«
»Die erste Frage ist noch offen.«
Sie taxierte mich mit ihren grünblauen Augen, die gut zu ihrem Kostüm und ihrem saharablonden Haar passten. Trotz der Nase war sie eine äußerst attraktive Frau.
»Mir hat niemand etwas gesagt«, erwiderte sie, als sie mit dem Taxieren fertig war.
»Also kam der Auftrag von Ihnen?«
Lonneke nickte.
»Sie haben sehr jung geheiratet«, sagte ich. »Mit zwanzig? Zweiundzwanzig?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Das weiß ich noch nicht. Wann ziehen Sie nach Buchenstein?«
»Ich habe den Umzug vorerst verschoben.« Sie wurde ärgerlich. »Warum fragen Sie mich nicht, warum ich den Auftrag erteilt habe?«
»Warum haben Sie den Auftrag erteilt?«
Sie seufzte. »Nur fünf Minuten und Sie gehen mir schon auf die Nerven.«
Ich lächelte zurück. »Sie müssen einen guten Grund gehabt haben. Meulendijk ist nicht billig.«
»Geld ist nicht das Problem.«
»Was ist denn das Problem?«
Sie wartete kurz, als bräuchte sie Zeit, ihrer Gereiztheit Herr zu werden. »Meine Mutter«, sagte sie kurz angebunden.
»Ihre Mutter ist 1980 bei einer Flugzeugkatastrophe ums Leben gekommen.«
»Sie ist nie identifiziert worden.«
»Aber sie stand auf der Passagierliste und ihr Gepäck war an Bord. Darüber besteht kein Zweifel.«
»Stimmt.« Sie schwieg erneut. »So what«, sagte sie dann.
»Hugo Balde, der Serienmörder, hat ein Geständnis abgelegt.«
»Das habe ich natürlich gelesen. Und auch, dass der Mann ein Irrer ist, der stolz darauf ist, dass er mit Sicherheit die ganze Welt ausgerottet hätte, wenn man ihm nur genügend Zeit dazu gelassen hätte. Glauben Sie an diese Version?«
Die Mauer, der unsichtbare Tennisplatz dahinter, der unglaubliche Zufall ohne eine Spur von Harmonie, dazu Hugo Balde, der zu diesem Zeitpunkt auf dem Mond hätte gewesen sein können. Man hatte nur wenig Nutzen von einem Verdächtigen, der sein Bestes tat, um kein Alibi zu haben, und dessen Wege nach der langen Zeit schlichtweg nicht mehr nachzuvollziehen
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