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Cleverly, Barbara - Die List des Tigers

Cleverly, Barbara - Die List des Tigers

Titel: Cleverly, Barbara - Die List des Tigers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Chance hatte, die Tigerin zu erwischen - vorausgesetzt, sie hätte den Beschuss der fünf anderen Gewehre überlebt -, und zwar, wenn sie in einer dieser Vegetationslücken auftauchte. Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und beobachtete wachsam die nächstgelegene Lücke, schätzte ihre Größe ab und überlegte, wie groß sein Ziel in dieser Umgebung aussehen würde. Würde sie sich verstohlen anschleichen wie eine Hauskatze, oder würde sie Achtung gebietend durch ihr Territorium streifen wie die Königin des Dschungels, die sie ja auch war? Trotz Colins ständiger Nachhilfe wusste er ausgesprochen wenig.
    Der Wald war überraschend still. In weiter Ferne trompetete ein Elefant. Sogar die Bande an Langure-naffen über ihren Köpfen, die anfangs schnatternd gegen ihre Anwesenheit in den Bäumen protestierten, hatte sich beruhigt und betrieb stumm gegenseitige Körperpflege. Joe spitzte aufmerksam die Ohren nach Geräuschen der Treiber. Hatte Colin Probleme mit der Schwadron an Dorfbewohnern, den übereifrigen Freiwilligen, die alle noch alte Rechnungen mit der Tigerin begleichen wollten?
    Joe sah auf seine Armbanduhr und stellte überrascht fest, dass er erst eine halbe Stunde auf seinem Baum saß.
    Eine kleine Herde Sambarhirsche spazierte ins Sichtfeld, sah etwas, das sie beunruhigte, und einer von ihnen blökte und wackelte mit dem Schwanz, woraufhin alle nervös aus dem Nullah flüchteten. Rechts von Joe ertönte ein Warnruf - ein Affe? -, der die Truppe über seinem Kopf alarmierte. Sie spähten, schwatzten, dann beschlossen sie, es gebe keinen Grund zur Panik, und widmeten sich wieder der Körperpflege.
    Joe wusste, dass Colin schon oft viele Stunden im Geäst eines Baumes auf Tiger gelauert hatte, ohne die Annehmlichkeiten eines Machan. Einmal hatte er im Himalaya eine ganze Nacht während eines Regengusses ausgeharrt und musste am Morgen von seinen Männern befreit werden, weil alle Gliedmaßen völlig versteift waren. Joe war dagegen erst seit einer Stunde auf seinem Hochsitz, und er genoss den Vorzug einer robusten Plattform und einer Leiter, wenn er sie brauchte. Plötzlich schien die Versuchung, hinunterzuklettern und zu urinieren und eine Zigarette zu rauchen, beinahe überwältigend.
    Ein einziger Stoß aus einem Signalhorn löste seine Anspannung. Die Jagd ging los. Colins Choreographie entfaltete sich. In der Ferne hörte man Stimmen, Stöcke wurden rhythmisch gegeneinander geschlagen, und Trommeln dröhnten. Die Männer näherten sich langsam von den drei Seiten des trichterförmigen Talausgangs, und die Bühne war bereit für den Auftritt der Hauptdarstellerin. Joes Blut rauschte. Schon der erste Stoß aus dem Signalhorn hatte die Tigerin alarmiert, und nun würde sie sich auf den Weg zum offenen Ende des Tales und zur Freiheit machen. Den Blick fest auf das Flussbett gerichtet, zählte Joe die Minuten. Wenn sie nicht seitlich ausgewichen war, um die Geröllhalde links von Bahadurs Baum hinaufzuklettern, würde sie jeden Augenblick in Schussweite kommen. Joe lauschte, erwartete, zu seiner Rechten Schüsse zu hören. Die Minuten verstrichen, der Lärm von den Treibern wurde lauter, aber es erklang kein Schuss. Nichts von Bahadur? Nichts von Ajit Singh?
    »Oh, Gott!« Joe fluchte verhalten. »Die Falle ist leer! Sie ist nicht hier! Und wir müssen morgen das Ganze irgendwo anders nochmal durchziehen ... oder übermorgen!«
    Ein einziger Schuss von Claudes Position beruhigte seine Nerven. Es bewegte sich also doch etwas. Joe wartete, suchte seinen Abschnitt ab.
    Dann war sie da, an ebenjener Stelle, wo er sie erwartet hatte. Ihr Umriss hob sich von dem sandigen Bereich ab, auf den er sich konzentriert hatte. Sie stand da und schnüffelte verstohlen in der Luft . ein riesiges Tier, rot-gold und schwarz im gnadenlosen Sonnenlicht funkelnd. Sie war herrlich. Die Affen über seinem Kopf bellten ihren Tigerwarnruf, tanzten vor Wut und Angst. Ein Schuss aus Richtung Edgar, und die Tigerin erhob sich auf die Hinterläufe und tat ihren Protest brüllend kund. Anscheinend unverletzt, schwang sie herum und stürzte sich in die Deckung der Gräser. War sie verwundet? Hatte Edgar sie verfehlt? Er hatte gefeuert, als die Tigerin seitlich zu ihm stand. Ein leichtes Ziel, aber keine der besten Schussmöglichkeiten, wenn es darum ging, eine tödliche Kugel abzufeuern. Joe beobachtete die wellenartige Bewegung der Gräser, als sie auf seinen Baum zurannte. Er schluckte nervös, während er ihr Vorankommen

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