Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
folgen.
Die meisten waren nur zu froh, dies nach ihrem langen, heißen Tag als Anlass für den eigenen Aufbruch zu nehmen, und nach fröhlichen Zurufen von >Gute Nacht< hatten sich bald alle in ihre Zelte zurückgezogen, ihr Weg erleuchtet vom Glühen des verlöschenden Feuers und den Fackeln der Nachtwache. Joe blieb noch lange wach, lauschte den Klängen des Dschungels und den Schlafgeräuschen des Lagers. Er lächelte, als er den Doktor hörte, dessen Zelt ihm gegenüberlag. Sir Hector gurgelte herzhaft, bevor er sich mit einem letzten, trompetenhaften Nasenschnäuzen zu Bett begab. Bahadurs Zelt stand rechts von Joes, zwischen seinem Zelt und dem von Colin und gegenüber von Ajits. Joe hörte, wie Bahadur sich noch lange unruhig im Bett drehte, mit seinem Diener redete und den Mann sogar zum Vorratszelt schickte, um ihm irgendetwas zu besorgen. Aus dem gedämpften Lachen bei der Rückkehr des Dieners schloss Joe, dass sich Bahadur heimlich einen Privatvorrat an Schweizer Schokolade zugelegt hatte, für die er eine große Vorliebe gefasst zu haben schien. Joe lächelte nachsichtig.
Die letzten unterdrückten Gähner und knarzenden Lagerstättengeräusche verloren sich, und Joe spürte, dass er als Einziger der Jagdgesellschaft noch wach war. So gefiel es ihm. Er lag auf dem leichten Holzbett mit der baumwollüberzogenen Matratze, nackt und feucht von der Katzenwäsche im Bottich, wach-sam und besorgt. Er hörte das Quaken der Frösche am See und das gelegentliche Heulen eines Schakals. Zweige knackten, und es raschelte im Unterholz, wenn die Kreaturen der Nacht verstohlen vorbeihuschten und die Lichtung umgingen, die die Menschen für sich eingenommen hatten. Es war lächerlich, dass sich Joe nach der entspannten Geselligkeit des Abends vor Anspannung krümmte. Jedes Mal, wenn er die Ursache seiner Unruhe herausfinden wollte, kam ihm derselbe verstörende Gedanke: In seinem Eifer, zu einer Lösung zu gelangen, hatte er die erste seiner eigenen, zwingenden Regeln gebrochen. Er war zu einer Schlussfolgerung gekommen und hatte sie sogar weitergegeben, bevor er alle Beweise ausgewertet hatte. Sein Verdacht, dass Udai Singh seine Hand bei der Ermordung seiner Söhne im Spiel hatte, war weiter nichts als ein Verdacht -und noch dazu ein unerhörter Verdacht! Schließlich befanden sie sich im Indien des zwanzigsten Jahrhunderts, nicht in der Türkei des fünfzehnten Jahrhunderts, wo zum Tode des Sultans Blutopfer von den Prinzen gefordert wurden. Hier herrschte das britische Empire, nicht die Ottomanen. Er war voreilig gewesen, und jetzt konnte er nur noch hoffen, dass Madeleine genug Verstand besaß, um die Mutmaßungen, die er ihr anvertraut hatte, für sich zu behalten. Sie hatte ihm ohnehin nur halb geglaubt, tröstete er sich.
Und wenn er sich geirrt hatte - wovon er jetzt überzeugt war -, was bedeutete das für die Sicherheit von Bahadur? >Bahadur, alter Knabe, geht es dir gut?<, fragte sich Joe stumm. Er fragte sich auch, ob Colin und Edgar und Ajit ebenso wie er Wache hielten. >Unablässige Wachsamkeit, Sandilands!<, ermahnte er sich selbst mit der pochenden Erinnerung an eine ähnliche Nachtwache in Panikhat. Er versuchte immer noch, sich auf alles einen Reim zu machen, als er einschlief.
Mitten in der Nacht wachte er auf und lauschte aufmerksam. Das Geräusch, das ihn geweckt hatte -woher war es gekommen? Einen Augenblick lang fürchtete er, Madeleine wäre so verrückt, ihm einen Besuch abzustatten, aber niemand zog den Eingangsvorhang an seinem Zelt auf. Sofort war Joe auf den Beinen, streifte sich den Morgenmantel über und eilte zu Bahadurs Zelt. Er lauschte sorgsam und hätte schwören können, das seltsame Geräusch, das er hörte, sei Bahadurs Kichern.
»Bahadur, Sir! Hier ist Joe Sandilands. Ist alles in Ordnung?«, rief er leise durch den Eingangsvorhang.
»Joe? Natürlich. Gehen Sie wieder ins Bett! Ich habe Ihnen morgen früh viel zu erzählen! Wenn meine Falle zuschnappt, werden Sie mich >Bahadur, den großen Jäger< nennen!« Noch mehr gedämpftes Lachen folgte dieser kryptischen Bemerkung. Joe schlich sich in sein Zelt zurück.
Als Bahadur am späten Morgen auftauchte, wirkte er geknickt und mied Joes Blick. Er mied die Blicke aller. Mit höflicher Begrüßung setzte er sich zu ihnen an den Tisch, schien aber nicht bereit, Konversation zu betreiben. Joe hätte das reizbare Verhalten auf ein Übermaß an Schokolade zurückgeführt, hätte Bahadur sein Frühstück nicht so gierig
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