Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
so spazierte er nackt aus dem Ghuls Khana. Er schlich leise in sein Zimmer, löschte die Lichter, prüfte die Türen, Fenster, Schränke und sah sogar unter dem Bett nach. Fünf Minuten Aufklärung auf Feindesgebiet konnten Leben retten, und er würde jetzt nicht in seiner Wachsamkeit nachlassen. Er hatte an der Nordwestgrenze gelernt, ständig auf der Hut zu sein, und auch wenn sich diese seidene, elegante Umgebung in keinster Weise mit jenem brutalen Höllenloch vergleichen ließ, so konnte sie sich doch auf ihre Weise als absolut tödlich erweisen.
Leise schloss er die letzte Schranktür.
»Ich habe bereits überall nachgesehen«, rief eine amüsierte Stimme von der Couch. »Und das ist nicht alles, was ich gesehen habe . Entzückende Kehrseite, Commander!«
Kapitel io
Joe erwachte durch ein diskretes Hüsteln an seiner Seite und das Klappern von Porzellan auf einem Tablett, das auf einen Serviertisch am Fußende seines Bettes gestellt wurde - von einem fröhlichen Govind, der daraufhin ins Badezimmer ging und Wasser in die Wanne einließ. Joe fand gerade noch rechtzeitig seine Stimme, um ihn davon abzuhalten, die Vorhänge aufzuziehen und das volle Flutlicht der frühmorgendlichen indischen Sonne hereinzulassen. Joes Gehirn befand sich noch inmitten einer doppelten Auskupplung, aber er war sich sicher, dass bestimmte Aspekte der Nacht besser nicht erhellt werden sollten, bis er wieder die volle Kontrolle über die Ereignisse hatte.
Joe blieb liegen, bis Govind sich zurückgezogen hatte. Wo anfangen? Seine Kopfschmerzen waren nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Und was noch ermutigender war: Niemand schlief auf seiner Couch. Und dort hatte, dem Anschein nach, auch nie jemand geschlafen. Alles war ordentlich, die Kissen lagen an Ort und Stelle, und das war doch sein Bademantel, der dort an der Tür hing? Er richtete sich auf und rief leise, eine Antwort fürchtend: »Sind Sie da, Madeleine?«
Keine Antwort.
Erleichterung übermannte ihn, und einen Augenblick lang war er versucht, sich der Illusion hinzugeben, dass die Ereignisse der letzten Nacht niemals geschehen waren. Als er jedoch den noch warmen Platz auf der anderen Seite des Bettes entdeckte, das eingedrückte Kissen und mehrere goldene Haare in der Kuhle, da führte ihm das ein weitaus weniger schmackhaftes Szenario vor Augen. Er hatte zu viel Champagner getrunken, aber er würde sich doch sicher an die Intimität, auf die diese Indizien hindeuteten, erinnern können? Schuldbewusst tastete er unter der Decke nach weiteren Hinweisen, fand aber nichts Belastenderes als ein gefaltetes Blatt Papier.
»Hat Nancy sich nie beklagt, dass Sie im Schlaf reden?«, lautete die kurze Nachricht.
Fast als Unterschrift war plötzlich ein kleines Flugzeug über dem Palast zu hören. Einen Augenblick lang dachte er, es könnte Madeleine sein, die nach Delhi flüchtete, aber das Flugzeug flog einen Kreis und drehte anschließend in die Aravalli-Berge ab.
Es gab noch etwas, das er überprüfen musste, fiel ihm plötzlich ein. Er kämpfte sich aus dem Bett und suchte im Abfalleimer und in allen Ecken, wo sie entsorgt worden sein könnte, nach der leeren Champagnerflasche. Es hatte nur eine gegeben, und die hatte er selbst geleert, rechnete er sich aus. Allem Anschein zuwider - die rauchige, ginverzerrte Stimme, die abgehackten Gesten - hatte Madeleine in seiner Gegenwart nur einen Fingerhut voll Champagner getrunken. Ihr erstes Glas war, wie er sich erinnerte, auf dem Boden gelandet, und die Flasche war kalt und musste fast voll gewesen sein, als er eintraf.
Madeleine hatte nur so getan, als sei sie betrunken. Aber warum sollte sie das tun? Schützende Schönfärberei vielleicht? Betrunkene nimmt niemand ernst. Man ignoriert sie, sie sind peinlich; die Leute sehen weg, wenn Betrunkene einen Raum betreten. Die Menschen unterschätzen sie. Er seufzte, als ihm klar wurde, dass er dazu gebracht worden war, sich Madeleine gegenüber ebenso zu verhalten. Und genau das war auch ihre Absicht gewesen. Die arme, kleine, verwitwete Madeleine ertränkt ihren Kummer in einer Flasche. Eine allzu typische Lösung für Indien und daher eine leichte Täuschung, aber wenn die Trunkenheit eine Täuschung war, was war dann mit dem Kummer?
Joe fragte sich erneut, wie es um Madeleines ambivalente Einstellung gegenüber ihrer derzeitigen Lage stand. Sie hatte ihren Ehemann nach allem, was man hörte, wirklich geliebt, aber sein Heim und seine Familie hatte sie gehasst. Wenn etwas
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