Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
zu können, als ihr Land im Würgegriff einer entsetzlichen Dürreperiode lag - und das ist noch gar nicht so viele Jahre her. Manch eine Maharani folgte ihrem Beispiel. Mein Vater sah keine Veranlassung, seine drei Töchter - ich bin die Älteste - in der Purdah zu erziehen und ihnen nicht all die Vorteile angedeihen zu lassen, die seine Söhne genossen. Wir Mädchen lernten an der Seite unserer Brüder Mathematik, Wissenschaft und Sprachen. Ich ritt und jagte mit ihnen. Ich glaube, ich war sogar ein besserer Sportsmann als die meisten meiner Brüder.« Sie runzelte die Stirn. »Ach herrje, ich weiß die weibliche Form von >Sports-mann< nicht!«
Joe tat so, als müsse er einen Augenblick nachdenken. »Ich glaube, es heißt einfach >Sportsmann<, Euer Hoheit.«
Sie warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zu. »Ich lernte also erst, dass Frauen als andere, minderwertige Rasse gelten, als ich in eine Mädchenschule nach Brighton geschickt wurde. Ich habe das niemals akzeptiert. Wichtiger noch, mein Vater hat das auch nie akzeptiert. Wie oft wurde um meine Hand angehalten, und jedes Mal hat er mich nach meiner Meinung gefragt. Er war vollkommen damit einverstanden, alle abzuweisen, da eine Heirat einem Leben in verwöhnter Sklaverei gleichgekommen wäre. Man hätte mich in eine Zenana verbannt, wo ich das Leben einer Einsiedlerin hätte führen müssen.«
Joe war entsetzt über die Vorstellung, dass diese schöne und vitale junge Frau zum alleinigen Vergnügen eines einzigen Mannes weggesperrt werden könnte.
»Bis zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag waren meine jüngeren Schwestern alle konventionell verheiratet - sie waren damit zufrieden und waren nicht dazu gezwungen worden. Mein Vater und ich hatten uns den Ruf erworben, ziemlich wählerisch zu sein. Die Angebote wurden weniger. Dann traf Pa einen alten Freund in London. Udai Singh war, wie er sich erinnerte, eine unbeschwerte Seele, weit gereist, klug und fortschrittlich, was die Stellung der Frau betraf. Mein Vater hatte ihn bis dahin nicht als passenden Ehemann für mich in Betracht gezogen, weil Udai zur Generation meines Vaters gehörte und bereits zwei Frauen und heranwachsende Erben hatte. Udai war nicht auf der Suche nach einer dritten Frau. Aber er wurde mir vorgestellt.« Sie lächelte angesichts der Erinnerung. »Und das war es dann. Ein Coup de foudre. Jedenfalls, was ihn betraf«, fügte sie plump hinzu. »Es war nicht ideal. Ich bin dazu geboren, mehr zu sein als nur die dritte Frau, aber . nun ja . Udai ist sehr reich, und wie Sie sehen, lässt er mich genauso leben, wie ich leben will.«
»Sie genießen das Beste zweier Welten, Euer Hoheit«, bestätigte Joe und fügte wagemutig hinzu: »Aber wie lange wird es währen? Gibt es etwas in der Zukunft, das Ihnen Sorge bereitet?«
»Das kann man wohl sagen!«, erklärte sie mit unerwarteter Heftigkeit. »Meine Freiheit, die Sie hier sehen, ist eine Illusion! Wenn Udai stirbt und sich die Männer gegenseitig an die Gurgel gehen, um sich ihren Platz auf dem Gaddi zu sichern, was passiert dann wohl mit den Witwen? Wir können nicht wieder heiraten, wissen Sie. In der Vergangenheit gab es immer den Scheiterhaufen als schnelle Lösung für dieses Problem, und ich bin sicher, Ihre Erste Hoheit würde sich für diese Möglichkeit entscheiden, wenn die sich ständig einmischenden Briten ihr das erlauben würden. Aber die Briten haben diese Tradition ja nun einmal vor vielen Jahren verboten.« Sie sah ihn neugierig an, fragte sich, inwieweit er Indien mit seinen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen verstand. Indiens Bräuche wurden nun entsprechend westlichen Moralvorstellungen geduldet oder unterdrückt. »Dieser Tage werden die Witwen vom König unter Bewachung gestellt - oh, eine sehr diskrete Bewachung, versteht sich. Udai wird allein auf seinem Scheiterhaufen liegen. Und das ist auch gut so.«
»Aber Sie würden sagen, dass seine Witwen sich in einer verzweifelteren Lage als üblich befinden werden?«, soufflierte Joe.
»Eine Frau kann nur dann weiterhin Macht ausüben und sich Respekt verschaffen, wenn ihr Sohn erbt und sie während seiner Minderjährigkeit die Regentschaft innehat. Die Söhne der ersten beiden Frauen sind tot. Ihre Erste Hoheit und Ihre Zweite Hoheit könnten genauso gut tot sein. Es hat Udai immer bekümmert, dass er so wenig Söhne hat. Viele Töchter, alle teuer verheiratet, aber nur zwei Söhne überlebten die Kindheit, und jeder der beiden war auf seine Weise eine
Weitere Kostenlose Bücher