Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
Abend gewesen war. Er hatte wenig gesagt, zufrieden damit, von den beiden alten Freunden unterhalten zu werden, die die Stunden rasch verstreichen ließen, indem sie Joe altbekannte Geschichten erzählten, aber zu guter Letzt machten sie sich entlang des dunklen Ufers auf den Rückweg. Edgar ging voraus, im Licht eines riesigen, bernsteinfarbenen Mondes und der kleinen, flackernden Laternen der Häuser in Ufernähe. Joe blieb stehen, hielt den Atem an und schaute auf das magische, weiße Spiegelbild von Shubhadas Pavillon auf der glatten Wasseroberfläche. Überall waren Waldwesen; er hörte ihre verstohlenen Bewegungen und ihre gelegentlichen heiseren Warnrufe. Joe stand wie verzaubert und lauschte dem unerwarteten Lied eines Nachtvogels - ein goldener Strom an Noten von den Zweigen über seinem Kopf.
»Eine Himalaya-Singdrossel«, meinte Edgar prosaisch. »Immer die Erste, die Guten Morgen zwitschert, und die Letzte, die Gute Nacht singt. Kommen Sie, Joe, weiter geht’s. Falls Sie noch einen Blick in die Waffenkammer werfen wollen, bevor Sie sich hinlegen!«
Edgar riss die Tür zur Waffenkammer auf und schaltete das Licht mit dem Selbstvertrauen eines Mannes ein, der jederzeit Zutritt hatte. Mit einer ausholenden Geste lud er Joe ein, den Inhalt des Raumes zu betrachten. Joe schien es zur Hälfte ein Trophäenzimmer und zur anderen Hälfte ein Museum für raj-putische Militaria aus längst vergangenen Zeiten zu sein. Er gab einen Kommentar zu den Tiger- und Leopardenköpfen ab, da dies von ihm erwartet zu werden schien. Reihe um Reihe an Schädeln - abgesehen von kleinen Schildern mit dem Namen des Jägers und dem Datum des Erlegens voneinander nicht zu unterscheiden - starrten finster auf ihn herab. Alle fletschten trotzig die Zähne, alle hatten funkelnde Glasaugen, in deren schwarzen Pupillen sich die Glühbirnen spiegelten und die ihm auf verstörende Weise mit ihren Blicken folgten.
In der Mitte des Raumes stand der ausgestopfte Körper eines herrlichen Tigers. Sein Fell war trotz seiner Erfahrungen aus den Händen der Jäger und des Tierpräparators dicht und weich und strahlte mit der Illusion von Gesundheit. Joe konnte nicht anders, als über das glatte Fell zu streichen und sich über die Massigkeit und Größe des Tieres zu wundern.
»Es ist das Winterfell, darum ist es so dicht«, erläuterte Edgar. »Udai hat ihn vor zwei Jahren selbst geschossen. Sein letzter Tiger. Ziemlich groß - von der Schnauze bis zum Schwanzende drei Meter fünfzehn.«
»Ich verstehe, warum Colin es mittlerweile vorzieht, mit dem Fotoapparat auf die Jagd zu gehen«, sagte Joe, um Edgar zu ärgern. »Es ist wider die Natur, ohne Grund eine Waffe gegen so eine herrliche Kreatur zu richten.«
Edgar sah ihn ungläubig an. »Die Jagd ist ein guter Grund«, meinte er kurz angebunden. »Kommen Sie, sehen Sie sich die Waffen an. Stellen Sie sich vor, von Angesicht zu Angesicht einem von diesen Tigern gegenüberzustehen, ohne den Vorteil eines Jagdgewehrs und einhundert Metern Distanz zwischen sich. Stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn Sie ihm von Nahem in die Augen starren und sich fast zweihundert Kilo Muskelmasse auf Sie werfen, wenn Sie seinen Atem auf Ihrem Gesicht spüren und Sie nichts anderes als eine dieser Waffen in der Hand haben!« Er wies auf die Reihen an Lanzen, die entlang einer Wand aufgestellt waren. Auf Joe wirkten sie bedrohlich genug. Und die Zurschaustellung von heimtückisch gebogenen Talwars, Langschwertern und Saufedern ließ ihn erschauern.
Edgar grinste ihn verschlagen an. »Ist nicht ganz Ihr Geschmack, oder, Joe? Schon gut. Ich führe Sie zu den anderen Ausstellungsstücken!« Er zeigte auf eine Reihe von großen Schaukästen aus Glas. »Folterinstrumente und Gladiatorenausrüstung. Alle noch bis vor wenigen Jahren in Gebrauch, wie man mir sagte. Und alles sehr interessant. Ziemlich weitsichtig von Udai, es der Nachwelt zu erhalten. Wäre doch zu einfach gewesen, die Sachen im Namen der Modernität zu entsorgen, aber so sind die Rajputen -sie gehen sehr bedachtsam mit ihrer Vergangenheit um und sind stolz auf sie.«
Sie schalteten das Licht aus und gingen. Joe schauderte. Seine Fantasie sagte ihm, dass dies kein Raum war, in dem er nach Einbruch der Dunkelheit gern allein wäre. Aber die Besichtigungsrunde war noch nicht vorüber. Edgar öffnete unbarmherzig eine angrenzende Tür. »Hier bitte, der absolute Gegensatz
- kann man sich etwas Moderneres als das hier vorstellen?«
>Das hier< war ein
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