Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
Stimme klang anders als früher. Sie besaß nun einen kühlen Unterton, etwas, das Tessa nie zuvor an Jem wahrgenommen hatte. »Charlotte hat offenbar ihren Einfluss geltend gemacht. Ich habe exakt eine Stunde, um mit dir zu reden, länger nicht.«
»Eine Stunde«, wiederholte Tessa benommen. Verlegen schob sie sich die Haare aus dem Gesicht. Wie schlimm sie aussehen musste, in ihrem zerknitterten Nachthemd, mit den wirren Zöpfen und den trockenen, spröden Lippen. Automatisch griff ihre Hand zu dem Klockwerk-Engel an ihrem Hals – eine vertraute, gewohnte Geste, die ihr immer Trost gespendet hatte. Doch der Engel war nicht länger dort. »Jem. Ich hab gedacht, du wärst tot.«
»Ja«, sagte Jem. Wieder schwang diese Unnahbarkeit in seinem Tonfall mit – eine distanzierte Kälte, die Tessa an die Eisschollen erinnerte, welche sie von Bord der Main aus gesehen hatte und die einsam und weit verstreut durch die eisigen Fluten getrieben waren. »Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich nicht in der Lage war … dass ich es dir nicht sagen konnte.«
»Ich dachte, du seist tot«, sagte Tessa erneut. »Und jetzt kann ich es kaum glauben, dass du hier wirklich bei mir bist. Ich habe von dir geträumt, wieder und wieder. Da war dieser dunkle Gang und du hast dich von mir entfernt…und so laut ich auch gerufen habe, du konntest, wolltest dich nicht zu mir umdrehen. Vielleicht ist das hier ja auch nur ein Traum.«
»Nein, dies hier ist kein Traum.« Jem erhob sich und trat direkt an ihr Bett, die blassen Hände vor dem Schoß verschränkt. Unwillkürlich musste Tessa daran denken, dass er auf die gleiche Weise dagestanden hatte, als er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte: direkt vor ihr, während sie auf dem Bett gesessen und ungläubig zu ihm hochgeschaut hatte, genau wie jetzt auch.
Langsam öffnete er die verschränkten Hände. Auf den Innenflächen entdeckte Tessa dicke schwarze Runen, die genau wie die Runen auf seinen Wangen in die Haut geritzt waren. Da sie mit dem Codex noch nicht allzu vertraut war, konnte sie die Male nicht sofort zuordnen, doch sie erkannte instinktiv, dass es sich nicht um herkömmliche Schattenjägerrunen handelte: Diese Runenmale sprachen von Kräften und Mächten, die weit darüber hinausgingen.
»Du hast mir gesagt, dass es nicht möglich sei … dass du kein Bruder der Stille werden könntest«, flüsterte sie.
Jem wandte sich von ihr ab. Auch seine Bewegungen erschienen ihr nun anders. Seine Motorik hatte bereits etwas von der gleitenden Schwerelosigkeit der Stillen Brüder – ein Anblick, der so schön war wie schrecklich. Was hatte er vor? Konnte er es nicht ertragen, sie anzuschauen?
»Ich habe dir damals das erzählt, von dem ich selbst überzeugt war«, erwiderte Jem, die Augen auf das Fenster geheftet. An seinem Profil konnte Tessa erkennen, dass sein Gesicht nicht mehr so erschreckend hager war wie früher. Die Wangenknochen stachen nicht länger deutlich hervor und seine Schläfen waren nicht mehr so eingefallen. »Und das war auch tatsächlich die Wahrheit, denn das Yin Fen in meinem Blut hat verhindert, dass die Runen der Bruderschaft auf meine Haut aufgetragen werden konnten.« Tessa bemerkte, wie schnell sich seine Brust unter der Robe hob und senkte, und war beinahe verblüfft darüber: Die Notwendigkeit zu atmen erschien ihr so zutiefst menschlich. »Jeder frühere Versuch, einen langsamen Entzug durchzuführen, hatte damit geendet, dass ich fast gestorben wäre. Als meine Yin-Fen- Vorräte aufgebraucht waren und ich nichts mehr nehmen konnte, spürte ich, wie mein Körper von innen nach außen verfiel. Also wusste ich, dass ich nun nichts mehr zu verlieren hatte.« Die Anspannung ließ seine Stimme wärmer klingen. Schwang da etwas Menschliches mit, nahm sie etwa einen Riss in der Rüstung der Bruderschaft wahr? »Ich drängte Charlotte, die Brüder der Stille zu rufen, und als sie im Institut eintrafen, bat ich sie, die Runen der Bruderschaft im letztmöglichen Moment aufzutragen – in dem Moment, in dem das Leben meinen Körper verließ. Ich wusste, dass diese Runen möglicherweise einen qualvollen Tod bedeuteten. Aber es war meine einzige Chance.«
»Du hast mir gesagt, dass du kein Stiller Bruder werden wolltest. Dass du nicht ewig leben wolltest …«
Inzwischen hatte Jem den Raum durchquert und stand nun neben Tessas Frisierkommode. Er beugte sich vor und hob etwas metallisch Glitzerndes aus einem flachen Schmuckschälchen. Überrascht stellte Tessa fest,
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