Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
ins Bett geschlüpft, hatte ihren Arm unter seinen Nacken geschoben, ihren Kopf auf seine Brust gelegt und seinem schwächer werdenden Puls gelauscht. Und im dämmrigen Licht hatten sie gemeinsam miteinander geflüstert und sich die Geschichten erzählt, die nur sie kannten. Von dem Mädchen, das dem jungen Mann, der zu ihrer Rettung herbeigeeilt war, einen Schlag mit einem Wasserkrug verpasst hatte, und davon, wie er sich in diesem Augenblick in sie verliebt hatte. Von einem Ballsaal und einem Balkon und einem Mond, der wie ein Schiff ohne Anker über den Himmel getrieben war. Vom Flattern der Schwingen eines Klockwerk-Engels. Von Weihwasser und Blut.
Gegen Mitternacht öffnete sich die Tür und Jem betrat den Raum. Tessa dachte kurz darüber nach, dass sie ihn nach all den Jahren eigentlich als Bruder Zachariah hätte betrachten müssen, aber weder Will noch sie hatten ihn je mit diesem Namen angesprochen. In seiner pergamentfarbenen Robe betrat er das Zimmer leise wie ein Schatten. Tessa holte tief Luft bei seinem Anblick, denn sie wusste, dass Will die ganze Zeit nur darauf noch gewartet hatte und dass seine Stunde nun gekommen war.
Jem trat nicht sofort an Wills Bett, sondern durchquerte das Zimmer und ging zu einem Kasten aus Palisanderholz, der auf einer Kommode ruhte. Darin hatte Will jahrelang Jems Geige aufbewahrt, so wie er es versprochen hatte. Der Kasten war sorgfältig gepflegt und keines der Scharniere quietschte, als Jem den Deckel öffnete und das Instrument herausnahm. Gemeinsam sahen Will und Tessa zu, wie er den Bogen mit Kolofonium einrieb, wobei seine hellen Handgelenke unter dem noch helleren Stoff seiner Robe verschwanden.
Dann setzte er die Geige an die Schulter, hob den Bogen – und begann zu spielen.
Zhi yin . Jem hatte Tessa einmal erklärt, der Ausdruck würde »die Musik verstehen« bedeuten, aber auch eine Verbundenheit zwischen Menschen, die über bloße Freundschaft weit hinausging. Nun spielte Jem und er spielte die Jahre von Wills Leben, so wie er sie erlebt hatte. Er spielte von zwei kleinen Jungen in einem Fechtsaal beim Messerwurftraining; und er spielte vom Parabatai -Ritual: das Feuer und die Eide und die brennenden Runen. Er spielte von zwei jungen Männern, die durch Londons dunkle Gassen liefen, kurz innehielten und sich lachend an eine Mauer lehnten. Er spielte den Tag in der Bibliothek, an dem Will und er Tessa mit Geschichten über Enten unterhalten hatten. Und er spielte die Zugfahrt nach Yorkshire, als er ihr erklärt hatte, Parabatai würden einander lieben »wie ihr eigen Herz«. Er spielte diese Liebe und er spielte ihre Liebe zu Tessa und Tessas Liebe zu ihnen beiden und er spielte Will, als er sagte: Nur in deinen Augen habe ich Gnade gefunden . Er spielte von den wenigen Gelegenheiten, bei denen er Will und Tessa nach seinem Beitritt zur Bruderschaft gesehen hatte: die kurzen Treffen im Institut; die kritische Situation, als ein Shax-Dämon Will gebissen hatte und er daran fast gestorben wäre – Jem war damals aus der Stadt der Stille herbeigekommen und hatte die ganze Nacht an seiner Seite verbracht (und damit eine harte Strafe riskiert). Nun spielte er von der Geburt ihres ersten Kindes und der Zeremonie der Schutzrune, die in der Stadt der Stille stattfand. Will hatte dieses Ritual von keinem anderen Bruder durchführen lassen wollen als von Jem. Und Jem spielte, wie er die Hände vor sein narbengezeichnetes Gesicht geschlagen und sich hatte abwenden müssen, als er herausfand, dass ihr Sohn auf den Namen James getauft werden sollte.
Er spielte von Liebe und Verlust und Jahren der Stille, von ungesagten Worten und unausgesprochenen Gelübden und der weiten Entfernung zwischen seinem Herzen und den Herzen der beiden. Als er geendet hatte, legte er die Geige zurück in den Kasten. Will hatte die Lider geschlossen, während in Tessas Augen Tränen glitzerten. Jem stellte den Bogen ab, trat wieder ans Bett und schob seine Kapuze zurück, sodass Tessa seine geschlossenen Lider und sein Gesicht mit den Narben sehen konnte. Und dann setzte er sich zu ihnen aufs Bett, nahm Wills andere Hand und sprach zu ihnen mit der Kraft seiner Gedanken:
Ich nehme deine Hand, Bruder, damit du mit Frieden hingehen kannst.
Will öffnete die blauen Augen, die in all den Jahren nichts von ihrer Leuchtkraft verloren hatten, schaute zuerst Jem an, dann Tessa, lächelte und starb, mit Tessas Kopf auf seiner Schulter und Jems Hand in seiner Hand.
Der Schmerz der Erinnerung an
Weitere Kostenlose Bücher