Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
gegenüberliegenden Tischseite nieder. Seine Lider waren gesenkt und die langen schwarzen Wimpern verdeckten seine Augen.
»Und ich denke, ich weiß, was das aus uns anderen macht«, fuhr Tessa fort. »Nur will ich nicht Lucie Manette sein, denn sie hat nichts zu Charles’ Rettung beigetragen; sie hat Sydney alles allein machen lassen. Und war sehr grausam zu ihm.«
»Charles gegenüber?«, fragte Will.
»Nein, zu Sydney«, erklärte Tessa. »Er wollte ein besserer Mensch werden, aber sie hat ihm nicht dabei geholfen.«
»Aber das konnte sie doch gar nicht. Sie war mit Charles Darney verlobt.«
»Trotzdem war das nicht sehr nett«, wandte Tessa ein.
Will sprang so rasch von dem Sessel auf, wie er sich hatte hineinfallen lassen. Er beugte sich vor und stützte die Hände auf den Tisch. Im Schein der blauen Lampe leuchteten seine Augen tiefblau. »Manchmal muss man sich entscheiden, ob man nett oder ehrenhaft sein will«, sagte er. »Manchmal kann man nicht beides zugleich sein.«
»Was ist denn besser?«, wisperte Tessa.
Ein bitteres Lächeln umspielte Wills Mundwinkel. »Das hängt vom jeweiligen Buch ab.«
Tessa legte den Kopf in den Nacken, um ihm in die Augen zu schauen. »Kennst du dieses Gefühl?«, setzte sie an. »Wenn man ein Buch liest und genau weiß, dass das Ganze in einer Tragödie enden wird. Man kann die heranziehende Kälte und Dunkelheit förmlich spüren; man sieht bereits, wie sich das Netz um die Personen, die auf den Seiten leben und atmen, immer fester zuzieht. Aber man ist an die Geschichte gefesselt, als würde man hinter einer Kutsche hergeschleift. Und man kann einfach nicht loslassen oder den Kurs der Geschichte ändern.«
Tiefes Verständnis spiegelte sich in Wills blauen Augen – natürlich verstand Will sie – und Tessa fuhr hastig fort: »Im Moment habe ich das Gefühl, als würde genau das geschehen. Doch es passiert nicht irgendwelchen Personen in einem Buch, sondern meinen eigenen geliebten Freunden und Gefährten. Aber ich will nicht tatenlos herumsitzen, während die Tragödie unaufhaltsam auf uns zusteuert. Ich möchte das Ruder herumreißen, weiß aber nicht, wie ich das anstellen soll.«
»Du sorgst dich um Jem«, sagte Will.
»Ja«, bestätigte Tessa. »Und auch um dich.«
»Nein … verschwende deine Gedanken nicht an mich, Tess«, widersprach Will mit heiserer Stimme.
Bevor Tessa etwas darauf erwidern konnte, schwang die Tür auf und Charlotte betrat die Bibliothek. Sie wirkte erschöpft und müde.
Rasch wandte Will sich ihr zu: »Wie geht es Jem?«
»Er ist wach und kann reden«, erklärte Charlotte. »Er hat etwas Yin Fen genommen und die Stillen Brüder konnten seinen Kreislauf stabilisieren und die inneren Blutungen stoppen.«
Bei den Worten »innere Blutungen« verzog Will das Gesicht, als müsste er sich jeden Moment übergeben, und Tessa vermutete, dass sie ähnlich kreidebleich war.
»Jem darf einen Besucher empfangen«, fügte Charlotte hinzu. »Genau genommen, hat er sogar danach gefragt.«
Will und Tessa tauschten einen raschen Blick. Tessa wusste genau, was sie beide dachten: Wer von ihnen sollte ihn besuchen? Tessa war Jems Verlobte, aber Will war sein Parabatai , was alles andere an Bedeutung überragte.
Dennoch hatte Will gerade einen Schritt zurückgemacht, um Tessa den Vortritt zu lassen, als Charlotte sich unendlich erschöpft an ihn richtete: »Er hat nach dir gefragt, Will.«
Verblüfft starrte Will sie an. Dann warf er Tessa einen raschen Blick zu. »Ich …«
Tessa konnte die Mischung aus Überraschung und einem Anflug von Eifersucht nicht leugnen, die sie bei Charlottes Worten überkam, doch sie schob ihre Gefühle beiseite. Sie liebte Jem genug, um alles zu unterstützen, was er sich wünschte. Außerdem hatte er in der Regel seine Gründe. »Geh du«, wandte sie sich leise an Will. »Natürlich möchte er dich zuerst sehen.«
Will setzte sich in Bewegung, um Charlotte zu begleiten. Doch nach ein paar Schritten drehte er sich um und kehrte zu Tessa zurück. »Während ich bei Jem bin…würdest du mir in der Zwischenzeit einen Gefallen tun, Tessa?«, fragte er.
Tessa schaute zu ihm hoch und schluckte. Will stand zu nah, viel zu nah: Seine kantigen Konturen beherrschten ihr gesamtes Blickfeld, so wie seine tiefe Stimme ihre Ohren erfüllte. »Selbstverständlich«, sagte sie. »Worum geht es?«
An
Edmund und Branwen Herondale
Ravenscar Manor
West Riding, Yorkshire
Lieber Vater, liebe Mutter,
ich weiß, es war nicht sehr
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