Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
Jahr lang hatte sie beobachtet, wie Will jeden von sich gestoßen hatte, der versuchte, ihm näher zu kommen: Tutoren, Charlottes Vater, ihr Verlobter Henry, die Lightwood-Brüder. Dabei war er stets mit einer Mischung aus Gehässigkeit und wohldosierter Grausamkeit vorgegangen. Wenn Charlotte nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie er einmal in Tränen ausgebrochen war, hätte sie vermutlich auch längst jede Hoffnung fahren lassen.
Und dennoch stand Will nun hier und musterte Jem Carstairs, einen Jungen, der so zerbrechlich wie Glas wirkte, und der harte Ausdruck in seinem Blick schien langsam zu bröckeln und einer zaghaften Unschlüssigkeit zu weichen. »Du bist nicht wirklich sterbenskrank, oder?«, fragte er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme.
»Leider doch. Das hat man mir zumindest versichert.«
»Tut mir leid«, murmelte Will.
»Nein, tu das nicht«, erwiderte Jem leise, legte seine Jacke ab und zog ein Messer aus seinem Gürtel. »Verhalte dich nicht wie alle anderen. Sag nicht, dass es dir leidtut. Sag lieber, dass du mit mir trainierst«, fügte er hinzu und streckte Will das Messer mit dem Griff voraus entgegen.
Charlotte hielt den Atem an und wagte nicht, sich zu bewegen. Sie hatte das Gefühl, Zeugin eines sehr wichtigen Moments zu sein, auch wenn sie nicht sagen konnte, worum es dabei genau ging.
Will griff nach dem Messer, ohne Jem auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Dabei streiften seine Finger Jems Hand.
Das war das erste Mal, dachte Charlotte, das erste Mal, dass sie ihn dabei beobachtet hatte, wie er einen anderen Menschen freiwillig berührte.
»Ja, ich werde mit dir zusammen trainieren«, sagte Will.
1
E IN FURCHTBARER T UMULT
Montagsbraut: schöne Haut
Dienstag mit Schleier: Geld und Gefeier
Mittwoch am Altar: einfach wunderbar
Donnerstag gefreit: lange gereut
Freitag vermählt: sehr schlecht gewählt
Samstag gebunden: Ach, hätten sie sich doch nie gefunden!
A LTE V OLKSWEISHEIT
»Der Dezember ist ein sehr günstiger Zeitpunkt für eine Hochzeit«, sagte die Schneiderin, den Mund voller Stecknadeln, was ihr aufgrund jahrelanger Übung aber keinerlei Probleme beim Sprechen bereitete. »Denn wie heißt es so schön: ›Fällt im Dezember der Schnee schon bald, wird eine geschlossene Ehe sehr alt.‹« Geschickt steckte sie eine letzte Nadel in das Kleid und trat dann einen Schritt zurück. »So. Was halten Sie davon? Der Schnitt ist einem von Worths Modeentwürfen nachempfunden.«
Tessa betrachtete sich in dem hohen Spiegel, der in ihrem Zimmer zwischen den beiden Fenstern hing. Das Kleid war aus mattgoldener Seide gefertigt, wie es der Schattenjägertradition entsprach. Denn die Nephilim betrachteten Weiß als die Farbe der Trauer und lehnten es ab, darin zu heiraten, auch wenn Königin Victoria diese Mode persönlich populär gemacht hatte. Brüsseler Spitze säumte das eng geschnittene Mieder und die Ärmel.
»Es ist wunderschön!« Charlotte klatschte in die Hände und beugte sich vor; ihre braunen Augen funkelten vor Begeisterung. »Tessa, die Farbe steht dir einfach hervorragend.«
Tessa drehte und wendete sich vor dem Spiegel. Das Gold verlieh ihren viel zu blassen Wangen etwas Farbe, das enge Korsett modellierte ihre Figur an den richtigen Stellen und der Klockwerk-Engel an ihrem Hals beruhigte sie mit seinem beständigen Ticken. Darunter baumelte der Jadeanhänger, den Jem ihr gegeben hatte. Tessa hatte die Kette verlängern lassen, sodass sie beide Schmuckstücke gleichzeitig tragen konnte, weil sie auf keines auch nur einen Moment verzichten wollte. »Meinst du nicht, dass die Spitze vielleicht ein wenig zu üppig ist?«, fragte sie zweifelnd.
»Auf keinen Fall!« Charlotte lehnte sich zurück und legte unbewusst eine Hand schützend auf ihren Bauch. Sie war immer so schlank, fast schon hager gewesen, dass sie nie ein Korsett gebraucht hatte. Und nun, da sie ein Kind erwartete, war sie dazu übergegangen, sich in Teekleider zu hüllen, in denen sie wie ein kleiner Vogel aussah. »Hier geht es um deinen Hochzeitstag, Tessa. Wenn es je eine Entschuldigung für üppig dekorierte Kleider gegeben hat, dann doch wohl diese. Stell dir die Zeremonie nur einmal vor!«
Tessa hatte genau damit bereits viele Nächte verbracht. Sie war sich nicht sicher, wo Jem und sie heiraten würden, denn die Kongregation beriet noch immer über ihren Antrag. Doch wenn sie sich ihre Hochzeit ausmalte, sah sie sich stets in einer Kirche, in der sie durch den
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