Cobra
schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich kann es nicht genau sagen, aber … na ja, er ist noch nicht aus der Akademie zurück, weißt du.«
Corwin wusste es nicht. »Steht er unter medizinischer Beobachtung?«
»Nein, aber er verbringt fast seine ganze Zeit allein in dem Zimmer, das sie ihm da draußen gegeben haben. Und er recherchiert eine Menge am Computer.«
Corwin rief sich Justins Bericht in Erinnerung, den er zwei Tage zuvor hastig überflogen und dann abgelegt hatte. Sein Bruder war dort draußen durch die Hölle gegangen … »Vielleicht schlägt er nur die Zeit tot, bis er sich emotional wieder erholt hat«, vermutete er. Aber die Worte klangen ihm schon falsch in den Ohren, als er sie aussprach. Justin war einfach nicht der Typ, der heimlich seine Wunden leckte.
Es war, als hätte Joshua seine Gedanken gelesen. »Dann müsste er an wesentlich mehr zu knacken haben, als er zugibt, denn so hat er sich noch nie verkrochen. Und diese Geschichte mit den Recherchen in der Bibliothek macht mir auch Kummer. Kannst du dir irgendwie eine Liste der Themen verschaffen, die er recherchiert?«
»Vielleicht.« Corwin kratzte sich an der Wange. »Tja … Hast du ihn daran erinnert, dass die Familie Moreau heute Abend Kriegsrat abhält?«
»Ja.« Sein Gegenüber nickte. »Er meinte, er wolle versuchen, es zu schaffen.«
»Na schön«, sagte Corwin langsam. »Gut. Pass auf, ich habe nicht mit dir gesprochen, also weiß ich natürlich auch nicht, dass
ihn schon jemand daran erinnert hat. Ich werde ihn anrufen, wie es sich für einen guten großen Bruder gehört, und sehen, was ich sonst noch aus ihm rauskriegen kann. Einverstanden?«
»Prima. Danke, Corwin – das hat mich fast schon in den Irrsinn getrieben.«
»Schon in Ordnung. Bis heute Abend.«
Joshua verschwand vom Bildschirm. Mit finsterer Miene tippte Corwin die Nummer der Cobra-Akademie ein und fragte nach Justin. Kurz darauf erschien das Gesicht seines Bruders. »Hallo – oh, Corwin. Was kann ich für dich tun?«
Es dauerte eine Sekunde, bis Corwin seine Sprache wiedergefunden hatte. Selten, wenn überhaupt jemals, war Justin so kühl gewesen – der Ausdruck geschäftsmäßig kam ihm in den Sinn. »Äh … ich rufe bloß an, um zu fragen, ob du heute Abend zum runden Tisch der Familie kommst«, sagte er endlich. »Ich nehme an, Dad hat dir davon erzählt.«
»Ja, vor ein paar Tagen. Und heute noch einmal Joshua. Wie ich gehört habe, soll Tante Gwen auch da sein.«
Verdammt, dachte Corwin und schnitt innerlich eine Grimasse. Eigentlich hatte er diesen kleinen Leckerbissen Justin gegenüber als Überraschung und zusätzlichen Anreiz selbst einflechten wollen. Tante Gwen – Jonnys jüngere Schwester – war seit seiner Kindheit Justins liebste Verwandte; seit sie vor sechs Jahren nach Palatine umgezogen war, besuchte sie die Familie jedoch nur noch selten und in großen Abständen. »Richtig, stimmt«, meinte er zu Justin. »Sie gehört zu den Geologen, die das Datenmaterial von Qasama analysieren.«
Hatte Justin beim Wort Qasama mit der Lippe gezuckt? Corwin war nicht sicher. »Ja, Dad hat es erwähnt. Na ja, ich habe schon zu Joshua gesagt, ich will es versuchen.«
»Was sollte dich denn abhalten?«, fragte Corwin, um Beiläufigkeit bemüht. »Du bist doch immer noch außer Dienst, oder?«
»Offiziell ja. Aber ich arbeite seit einiger Zeit an etwas, das ich möglichst bald fertig haben will.«
»Und das wäre?«
Justin verzog keine Miene. »Das wirst du erfahren, wenn es so weit ist. Bis dahin möchte ich es lieber nicht verraten.«
Corwin seufzte innerlich und gab sich geschlagen. »Na gut, tu du nur geheimnisvoll. Aber sag mir Bescheid, wenn du abgeholt werden willst, dann schicke ich dir einen Wagen.«
»Danke. Wir unterhalten uns später.«
»Bis dann.« Der Bildschirm erlosch, und Corwin lehnte sich in seinem Sessel zurück. Die Reise nach Qasama hatte seinen jüngeren Bruder entschieden verändert – und nicht unbedingt zum Besseren. Dennoch, wie er auch schon Joshua gesagt hatte: Manche Dinge brauchten einfach ihre Zeit.
Sein InterKom summte: Yutu hatte irgendwelche Neuigkeiten im öffentlichen Netz, die einer offiziellen Stellungnahme bedurften. Seufzend schaltete Corwin das Netz ein, schob seine Sorgen um Justin in den Hintergrund und machte sich wieder an die Arbeit.
Für Pyre war es wie in alten Zeiten. Fast.
Eine Einladung zum Familiendinner bei den Moreaus war für ihn immer etwas Besonderes gewesen,
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