Cobra
Jonny holte tief Luft, ging in die Knie und sprang.
Drei Jahre Training hatten zur Perfektion geführt. Am Scheitelpunkt seines Sprunges bekam er den Fenstervorsprung zu fassen und zog die Füße an, um die Wucht des Aufpralls auf der glühend heißen Mauer abzufangen. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung zog er sich durch das halbgeöffnete Fenster ins Innere des Gebäudes.
Die Vermutung des Brandmeisters, was die Hitze und den Rauch betraf, erwies sich als korrekt. Die sieben Männer, die auf dem Boden des kleinen Raumes saßen oder hockten, waren so erschöpft, dass sie bei Jonnys plötzlichem Erscheinen nicht einmal Überraschung zeigten. Drei waren bereits bewusstlos – sie lebten, aber vermutlich nicht mehr lange.
Zuerst musste das Fenster ganz geöffnet werden. Es war so konstruiert, wie Jonny sah, dass es sich nur zur Hälfte öffnen ließ. Der Metallrahmen des Oberteils schloss fest mit der Mauer ab. Ein paar sorgsam platzierte Laserstöße in das von der Hitze weich gewordene Metall und ein einziger Tritt, und die Glasscheibe segelte wirbelnd nach unten.
Mit hastigen Bewegungen löste Jonny das Seil von der Hüfte, befestigte es an einem Pfeiler und zog dreimal daran, um den Feuerwehrleuten zu signalisieren, dass sie es spannen sollten. Dann hievte er einen der Bewusstlosen in eine mehr oder weniger aufrechte Stellung, band dem Mann einen Streifen des Tuches um das linke Handgelenk, warf das andere Ende um das schräg gespannte Seil und befestigte es am rechten Handgelenk des Mannes. Mit einem raschen Blick nach draußen vergewisserte er sich, ob die Feuerwehrleute bereit waren, dann hob er den Mann durch das Fenster und ließ ihn an dem strammen Seil nach unten in die wartenden Arme gleiten. Jonny wartete nicht ab, bis sie
ihn losgeschnitten hatten, sondern eilte sofort zu dem zweiten Bewusstlosen.
An manchen Stellen begann der Fußboden bereits zu schwelen, als der letzte Mann durch das Fenster verschwand. Jonny warf einen weiteren Stoffstreifen über das Seil, packte beide Enden mit seiner rechten Hand und sprang. Der Fahrtwind strich wie eine arktische Brise über seine schweißnasse Haut, und als er den Boden erreichte, stellte er fest, dass er zitterte. Er ließ den Stoffstreifen los, taumelte ein paar Schritte zur Seite – und hörte etwas sehr Eigenartiges.
Die Menge jubelte.
Er drehte sich verwundert zu den Leuten um, und endlich dämmerte ihm, dass sie ihm zujubelten. Gegen seinen Willen huschte ein verlegenes Lächeln über sein Gesicht, und er hob schüchtern zum Dank die Hand.
Und dann war Bürgermeister Stillman neben ihm, packte Jonnys Arm und strahlte übers ganze Gesicht. »Du hast es geschafft, Jonny! Du hast es geschafft!«, brüllte er über all den Lärm hinweg.
Jonny grinste zurück. Unter den Augen von halb Cedar Lake hatte er sieben Menschen gerettet und dabei sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt. Sie hatten gesehen, dass er kein Monster war, dass er seine Fähigkeiten nutzbringend einsetzen konnte und – was am wichtigsten war – dass er helfen wollte . Tief in seinem Innern spürte er, dass dies der entscheidende Wendepunkt war. Vielleicht – nur vielleicht – würde für ihn jetzt alles anders werden.
Stillman schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Ich habe gehofft, nach dem Brand würde für ihn alles anders werden.«
Fraser zuckte mit den Achseln. »Das hatte ich auch gehofft. Aber ich muss gestehen, ich hatte nicht wirklich damit gerechnet. Selbst als alle ihn bejubelten, konnte man sehen, wie ihnen diese Nervosität noch immer in den Augen stand. Die Angst vor ihm war nie ganz verschwunden, nur überdeckt. Und jetzt, da das Hochgefühl abgeflaut ist, bleibt sie allein zurück.«
»Tja.« Stillman löste den Blick von seinem Schreibtisch und starrte einen Augenblick lang aus dem Fenster. »Sie betrachten ihn also wie einen unheilbaren Psychopathen. Oder wie ein wildes Tier.«
»Man kann es ihnen eigentlich nicht verdenken. Die Leute haben einfach Angst davor, was er mit seiner Kraft und seinen Lasern anstellen könnte, wenn er durchdreht.«
»Er dreht nicht durch, verdammt nochmal!«, fuhr Stillman auf und schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch.
»Ich weiß das!«, feuerte der Stadtrat zurück. »Na schön – Sie wollen also allen die Wahrheit erzählen? Angenommen, Vanis D’arl macht uns dafür nicht zur Schnecke, wollen Sie den Leuten wirklich erzählen, dass Jonny keinerlei Kontrolle über seine Kampfreflexe hat? Halten Sie das für
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