Coco Chanel & Igor Strawinsky
überhaupt aufs Spiel gesetzt, indem sie Dimitri eingeladen hat? Er versucht sich seinen Verdruss nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, aber ihre neue Zurückhaltung macht ihm Sorgen. Manchmal behandelt sie ihn geradezu schockierend kühl.
Eines Morgens schließlich wacht Coco auf und erkennt, dass sie ihn nicht mehr liebt. Kein dumpfes Brüten mehr, keine angstvollen Neubewertungen oder quälenden Selbstzweifel. Genug ist genug. Igors Talent und seine Kraft haben sie verführt. Sie mochte seine Ernsthaftigkeit, und seine Gesellschaft war überaus anregend. Aber wenn sie ihn jetzt als Mann betrachtet, nicht als Musiker, stellt sie fest, dass sie sich nicht mehr länger zu ihm hingezogen fühlt. Das wird Jekaterina freuen, denkt sie. Vielleicht ist das das Heilmittel, auf das sie wartet. Es würde sie ohnehin nicht überraschen, wenn ihr wahres Leiden psychischer Natur wäre.
Und so entwickeln sich in Bel Respiro neue Routinen. Morgens, wenn Igor arbeitet, reiten Coco und Dimitri zusammen aus. Igor kann nicht reiten, und selbst wenn, würde ihm das schlechte Gewissen darüber, einen Morgen Arbeit geopfert zu haben, die ganze Freude verderben. Dimitri hingegen ist nicht nur ein begeisterter und hervorragender Reiter, sondern auch harter Arbeit von Natur aus eher abgeneigt. Er
reitet so schnell, dass selbst Coco als erfahrene Reiterin ihm nur mit Mühe folgen kann.
Jeden Morgen sieht Igor die beiden auf der breiten, sonnenbeschienenen Auffahrt vor seinem Fenster. Piotr holt die Pferde aus einem nahe gelegenen Stall und zäumt die Stuten auf, während Coco und Dimitri im Garten miteinander flirten. Igor beobachtet, wie Dimitri Coco galant in den Sattel hilft. Für einen Moment überragt sie ihn.
Dann reiten sie in flottem Tempo davon. Staubwolken bleiben zurück, wenn sie die Straße hinab verschwinden. Noch lange hallt das Klappern der Hufe in Igors Kopf nach.
Seit ihrem Umzug nach Garches hat Coco nicht ein einziges Mal auf einem Pferd gesessen. Wie absurd, denkt sie. Dabei ist sie früher so oft geritten. Sie spürt das Spiel der Muskeln ihrer Stute. Sie sieht die breite weiße Blesse, die sich über den Kopf des Tieres zieht, und spürt, wie ihre Erschöpfung verfliegt. Ihre Haut fühlt sich straffer an, als sei sie komplett erneuert.
Achtlos galoppieren sie durch den Wald und das Gestrüpp, das während der Sommermonate ungehemmt gewuchert ist. Jetzt fällt die Novembersonne durch kahle Bäume. Zum ersten Mal, seit sie hergezogen ist, kann sie den ganzen Wald sehen. Und auch alles andere in ihrem Leben erscheint ihr mit einem Mal so klar. Ihr Blick hat eine neue Schärfe gewonnen. Eine weite Landschaft hat sich in ihr geöffnet.
Dimitri gibt seinem Pferd die Sporen, bis der Schmerz es in einen riskanten Galopp fallen lässt. Coco versetzt ihrer Stute einen flinken Schlag mit der Gerte und bemüht sich, ihn einzuholen. Ihre Beine spannen sich an, während sie sich vorbeugt, und der Wind peitscht ihr immer härter ins Gesicht. Der Geruch der feuchten Erde vermischt sich mit scharfem Pferdedunst. Ihr Gesicht ist gerötet, und ihr
Atem quillt in lang gezogenen, formlosen Wolken aus ihrem Mund. Sie spürt, wie Schweiß auf ihrem Rücken zu kribbeln beginnt. Ihre Beine zittern vor Anstrengung, und nach ein paar Minuten in diesem scharfen Galopp beginnen ihre Lungen zu brennen. Als sie Dimitri schließlich einholt und ihr Atem sich allmählich wieder beruhigt, scheint ihr, als galoppiere die Welt immer noch weiter und rausche haltlos an ihr vorbei.
Ihr ist schwindelig, als sie gemächlich in Richtung eines kleinen Weihers reiten. An den Wegrändern sieht sie verdorrte Hasenglöckchen. Von allen Seiten umschließen sie Pappeln. Sie erinnert sich an das rauchblaue sommerliche Halbdunkel des Waldes. Die Pferde schnauben, Dampf wirbelt von ihrer Haut auf. Trotz der Jahreszeit explodiert um sie herum eine wahre Orgie aus leuchtend grünem Farn. Blaugrün bricht sich das Licht. Dimitris Augen schimmern in der gleichen Farbe. Alles scheint von Ruhe und Mysterium durchdrungen. Coco fühlt sich umhüllt und geborgen.
Ihr ist heiß von dem anstrengenden Ritt. Ein schwacher Schauer durchläuft sie. Und hier an diesem verborgenen Ort, während das Morgenlicht aus den Wäldern weicht und die Luft um sie herum abkühlt, geschieht es. Sie hat es nicht geplant, es überrascht sie selbst. Aber mit halb geschlossenen Augen, den Kopf zur Seite geneigt, legt sie die Arme um Dimitris Nacken und gibt sich seinen Küssen
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