Coco Chanel & Igor Strawinsky
das gemacht?«
Wieder und wieder bitten sie ihn, die Geschichte zu erzählen. Und bereitwillig erfüllt er ihren Wunsch: »Und dann schoss Jussupow noch einmal auf ihn - peng! - und noch einmal - peng! -, aber er brach immer noch nicht zusammen!« Mit jeder Wiederholung wächst Rasputins wundersame Fähigkeit, den Kugeln zu widerstehen.
Auch Dimitris Sammlung von Orden zieht die Kinder in ihren Bann. Ludmilla streicht über die Reliefdarstellung des Zaren auf einem Orden am Bande.
»Den hat er mir persönlich verliehen …«
»Was hatten Sie gemacht?«, fragt Théo ehrfürchtig.
»Ach, eigentlich nichts Besonderes. Ich hatte ein Bataillon gegen eine deutsche Geschützbatterie geführt, und wir eroberten die Stellung.«
»Gab es viele Tote?«, fragt Soulima.
»Einige, ja.«
Nach einer Pause, in der die Jungen diese Antwort verdauen, wird Dimitri lebhafter. »Kommt, ich zeige es euch.
Dieser Löffel hier ist die Geschützbatterie, und die Messer sind das vorrückende Bataillon …«
Igor verlässt das Zimmer, bevor noch der Rest des Bestecks zum Dienst verpflichtet wird. Das Einzige, was er über den Krieg weiß, ist, dass die Granaten in Es über die Schützengräben pfiffen.
Ihr überschwänglicher neuer Hausgenosse, der seine gesamte Umgebung mit seiner übertriebenen Galanterie und seinem militärischen Schneid zu bezaubern scheint, widert ihn an. In Igors Augen ist er ein Dummkopf, ein aufgeblasener Kasper. Ihm ist aufgefallen, dass es in seinem Gepäck nicht ein einziges Buch gab. Er ist kulturell minderbemittelt und hat nicht das geringste Interesse an Musik oder Kunst. Der Mann ist in intellektueller Hinsicht hohl, findet er. Trotzdem muss er zugeben, dass seine Art etwas Fesselndes hat. Zunächst kann er nicht genau bestimmen, was es ist, doch dann wird es ihm klar. Es ist eine Art kultivierte Grausamkeit. Wie ein Leopard könnte er einen töten, aber wenn er es täte, dann mit ausgesuchtem Stil.
Coco scheint hoffnungslos hingerissen von ihm zu sein. Es schockiert Igor, wie ausgelassen sie in seiner Gegenwart ist. Schnell wird ihm klar, dass er mit Dimitris überschäumender Vitalität nicht konkurrieren kann. Stattdessen muss er sich auf Cocos Loyalität und Geschmack verlassen. Er hofft, dass zwischen den beiden nichts ist, aber das Misstrauen nagt an seinem Herzen. Die Vorstellung, sie zu verlieren, lässt ihn verzweifeln, und doch spürt er, wie sie ihm mehr und mehr entgleitet.
Das Abendessen ist eine demütigende Erfahrung für Igor. Es macht ihn verletzlich und unsicher, als er genau die gleiche Vertrautheit zwischen ihnen erkennt - das aufblitzende heimliche Lächeln, die verstohlenen flüchtigen Berührungen
der Hände, die unter dem Esstisch aneinanderlehnenden Beine -, die er selbst während der Sommermonate genossen hat. Seine Sorge wird zu Verzweiflung. Nur mit enormer Willenskraft gelingt es ihm, sich nichts von seinem inneren Aufruhr anmerken zu lassen.
Seht sie nur an! Wie affektiert sie in Dimitris Gegenwart ihr Haar hochschiebt. Wie sie als Erstes seinen Blick sucht, um Bestätigung zu finden oder einen Witz auszukosten. Und dann diese kokette Angewohnheit, den Kopf auf die Seite zu legen, wenn sie mit ihm spricht. Einfach grauenvoll, findet er. Aber da ist noch mehr. Die hoffnungslos zärtlichen Blicke. Wie sie dahinschmilzt, wenn sie ihn, das Kinn auf die Hand gestützt, anschaut. Dieses pferdegleiche Schnauben bei allem, was er sagt. Igor wird bleich. Sein Herz zieht sich zusammen. Aus jeder Geste spricht ihre Liebe zu Dimitri. Eisige Kälte kriecht in seine Nieren. Das ist mehr, als er ertragen kann.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Tischs gestikuliert Dimitri wild, um eine weitere seiner Heldentaten zu illustrieren, und stößt dabei ungeschickt ein Weinglas um. Der Wein ergießt sich über Igors weiße Hose und hinterlässt einen leuchtend roten Fleck in seiner Leistengegend.
Igor springt zurück, als hätte er sich verbrannt. Vergeblich tupft er sich mit einer Serviette ab. Dimitri entschuldigt sich, aber ein spöttischer Zug in seinem Verhalten macht Igor wütend und misstrauisch.
Er blickt auf den immer dunkler werdenden Fleck wie auf eine Wunde. Er spürt die kühle Feuchtigkeit auf seiner Haut. Und in seinen ungezügelten Fantasien glaubt er in diesem formlosen Klecks das Sinnbild seiner Hilflosigkeit zu erkennen, das Zeichen seiner Kastration.
Kapitel 28
BEI DIMITRI KANN Coco leichtsinnig und zärtlich sein, unverstellt und kühn. Außerdem braucht sie sich
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