Coco Chanel & Igor Strawinsky
Nadelpäckchen, Garnspulen und Baumwollbändern umgeben. Auf dem Boden liegen Stapel Pauspapier, Wollknäuel und Berge von Stoffen: Seide, Batist, Crêpe de Chine, Leinen, Musselin, Chiffon, Satin, Jersey, Baumwolle, Samt und Tüll. Alles ist systematisch angeordnet, und alles hat seinen festen Platz.
Während im einen Raum das Klavier erklingt, trennt im anderen die Schere schnipselnd die Nähte eines Kleids auf. Während in Igors Mundwinkel ein Bleistift klemmt, werkelt Coco ein paar Zimmer weiter mit Nadeln zwischen den Zähnen. Während Igor die Pedale des Klaviers tritt, betätigt Coco das Pedal ihrer Nähmaschine. Und beide murmeln bei der Arbeit lautlos vor sich hin.
Am dritten Abend ihres Aufenthalts in Bel Respiro sitzen Igor und Jekaterina mit Coco im Wohnzimmer und trinken Tee. Draußen füllt das Zirpen der Zikaden die Stille aus. Eine Eule lässt ihren langen, klagenden Ruf durch die Wälder wehen.
Igor ist eigen, was seinen Tee angeht. Er mag ihn sehr dünn und sehr heiß. Ein Gegenmittel zu seinem üblichen Wodka. Er schildert Coco gerade die Kämpfe, die er mit aufeinanderfolgenden Nachbarn wegen seines Klavierspiels ausfechten musste.
»Einer von ihnen hämmerte immer mit einem Stock gegen die Decke, bis sich der Vermieter darüber beschwerte, dass er den Putz beschädigte. Ein anderer warf Kiefernzapfen gegen mein Fenster und hat sogar eines zerbrochen.«
»Es kann aber auch wirklich störend sein, Liebster«, bemerkt Jekaterina. Sie wechseln einen Blick, der die gegenseitige Nachsicht erahnen lässt, von der ihre Beziehung geprägt ist.
»Nun, hier können Sie so laut spielen, wie Sie wollen«, sagt Coco.
Plötzlich schwingt die Tür auf, und Milena kommt herein. Sie ist in einem fremden Zimmer aufgewacht, völlig verängstigt, weil sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, wo sie war. Schlimmer noch, in ihrer Angst wurden die Schlafzimmermöbel zu albtraumhaften Gestalten: Der Umriss eines Stuhls blähte sich zum menschenfressenden Ungeheuer, ein Lampenschirm wurde zu einer riesigen Spinne, und ein Nachthemd, das innen an der Tür hing, verwandelte sich in einen kopflosen Geist. Tapfer hat sie den fremden Korridor durchquert, die Stimmen ihres Vaters und ihrer Mutter im Stockwerk darunter gehört und ist die Treppe heruntergekommen. Als sie ins Zimmer kommt und ihre Eltern sieht, wirft sie ihnen einen verletzten Blick zu, in den sich die Erleichterung darüber mischt, sie endlich gefunden zu haben.
»O Liebling!« Jekaterina steht auf und breitet die Arme aus, damit sich Milena Schutz suchend an ihre Brust flüchten kann. »Was ist denn los?«
»Das arme Ding!«, sagt Coco. »Sie weiß offensichtlich nicht, wo sie ist.«
Milena sagt kein Wort. Vor lauter Angst kann sie nicht einmal weinen. Ihr Gesicht ist erstarrt in einem stummen Flehen um Liebe und Trost.
Igor geht zu seiner Tochter hinüber. Er kniet neben ihr nieder und streichelt ihr sanft übers Haar. »Keine Angst, Liebes. Mama und Papa sind hier. Und Coco auch.«
»Du brauchst dich nicht zu fürchten«, kommt ihm Coco zu Hilfe. »Das hier ist jetzt für eine Weile dein Zuhause.«
Die Züge des kleinen Mädchens entspannen sich. In ihren Augen spiegelt sich das Licht einer nahen Lampe. Igor beugt sich zu ihr vor. »Alles wird gut«, sagt er.
»Ich bringe sie zurück ins Bett«, flüstert Jekaterina.
»Nein«, widerspricht das Kind.
»Komm nur, wir lesen noch ein wenig.«
»Kann ich nicht noch ein bisschen hier unten bleiben?«, bettelt Milena.
»Nein«, antwortet Jekaterina sanft, aber bestimmt. »Es ist schon sehr spät, du musst ins Bett.«
»Ja, du brauchst deinen Schlaf, denn morgen wird ein aufregender Tag. Wir werden im Garten ganz viele neue Spiele spielen, und du musst ausgeruht sein, wenn du mit den anderen mithalten willst.« Coco bewegt energisch die Arme auf und ab, um ihre Worte zu unterstreichen.
Milena durchschaut ihren Bestechungsversuch, scheint aber gern bereit, darauf einzugehen.
»Jetzt gib Papa einen Gutenachtkuss.«
Milena umarmt ihren Vater. Igor drückt sie fest an sich und küsst sie zärtlich auf die Stirn. »Gute Nacht«, sagt er. »Und gib auch Coco einen Kuss und bedanke dich bei ihr dafür, dass wir hier wohnen dürfen.«
»Danke, Coco«, flötet das Kind.
»Keine Ursache.«
»Und jetzt hoch ins Bett, junge Dame. Komm mit.« Milena
öffnet die Tür, um hinauszugehen, aber Jekaterina bleibt an der Schwelle noch einmal stehen. »Ich gehe auch gleich schlafen, wenn es euch nichts
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