Coco Chanel & Igor Strawinsky
ausmacht«, sagt sie. »Ich bin sehr müde. Gute Nacht.«
Seit ein paar Tagen fühlt sie sich nicht wohl. Sie vertraut darauf, dass ihr Mann gleich nachkommt. Obwohl sie eigentlich nicht eifersüchtig ist, lässt sie die beiden nicht gern allein.
»Ich komme auch bald«, sagt Igor.
»Gute Nacht«, wiederholt Coco melodisch.
Jekaterina verlässt das Zimmer, die Hand ihrer widerstrebenden Tochter fest im Griff. Sie ist immer noch skeptisch, was das Leben hier angeht. Sie spürt instinktiv, dass etwas an diesem Haus nicht stimmt. Alle Teppiche sind neu, die Möbel sind modern, und alles ist fleckenlos. Überall hängt noch der Geruch von frischer Farbe. Trotzdem wirkt es irgendwie unwirklich. Sie hat das Gefühl, in einer Theaterkulisse zu leben, und beinahe erwartet sie, jeden Moment das Publikum zu entdecken. Doch sie hat sich immer bemüht, nicht vorschnell zu urteilen, und so beschließt sie auch jetzt, dem Ganzen noch ein wenig Zeit zu geben.
Igor und Coco bleiben im Wohnzimmer und lauschen dem Trippeln des Kindes und den gesetzteren Schritten seiner Mutter, als die beiden langsam die Treppe hinaufgehen. Zwischen ihnen streckt der Kater gähnend seine raue Zunge heraus.
»Sie ist ein entzückendes Mädchen.«
Er schaut auf. »Ja, das ist sie.«
»Sie sind sicher sehr stolz auf sie.«
In der darauf folgenden Stille klingt der Gesang der Zikaden plötzlich um einen Halbton erhöht. Igor setzt sich wieder in seinen Sessel und schiebt die rutschenden Seiten der Zeitung auf seinem Schoß zurecht. Das Gedruckte verschwimmt vor seinen Augen. Er spürt Cocos Gegenwart wie einen kompakten Gegenstand am anderen Ende des Zimmers. Sie scheint ihm näher zu sein als vorher, als habe jemand seinen Sessel in ihre Richtung gezogen. Mit einem Mal fühlt er sich unbehaglich und denkt daran, dass seine Frau oben auf ihn wartet. Er lässt die Zeitung sinken und faltet sie übertrieben sorgfältig zusammen. Dann trinkt er genauso förmlich seinen Tee aus und erklärt, dass er jetzt ebenfalls zu Bett gehe.
»Gute Nacht«, sagt er. Ein herausfordernder Ton schwingt
in seiner Stimme mit. In seiner rechten Gesichtshälfte zuckt ein Muskel.
Sie sieht zu ihm auf, und das Licht der Lampe spiegelt sich in ihren Augen. Sie neigt den Kopf zur Seite und verlagert ihr Gewicht im Sessel. Ihr Blick macht ihn nervös. Tapfer hält er ihm stand.
»Gute Nacht«, sagt sie.
Ihre Stimme klingt rau wie gegen den Strich gebürsteter Samt. Ihr Klang hallt in seinem Innern nach, als er nach oben ins Bett geht, und verfolgt ihn bis in seine Träume.
Kapitel 6
IGOR SITZT AM Klavier und korrigiert mit seinem Bleistift eine Partitur. Die Notenblätter lehnen auf der Ablage über den Tasten. Mit aufmerksam geneigtem Kopf und der auf die Stirn hochgeschobenen Brille gleicht er einem Falschspieler oder Rennfahrer: einem Mann, der Risiken eingehen könnte.
Unentwegt jongliert er mit Notenkombinationen und variiert ihre Dauer. Er ist auf der Suche nach jenem fesselnden Zusammentreffen von Klängen, jener Parallelität von Tönen, die so erregend ist, als steche einem jemand mit einer Nadel zwischen die Rippen. Er probiert verschiedene Akkordfolgen aus und verändert die Position seiner Finger, bis ein dichtes Gewebe entsteht, das wohlklingend und kompliziert zugleich erscheint. Er ist der Überzeugung, dass die Antwort nur selten in einfachen Harmonien zu finden ist. Die Lösungen erfordern einen indirekten Ansatz, sie kommen aus einer überraschenden Richtung. Und so kann das, was anfangs vielleicht misstönend klingt, sich letztlich als durch und durch komplex und großartig erweisen.
Plötzlich klopft es an die Tür seines Arbeitszimmers. Erst denkt er, es sei Marie, die sauber machen will, aber es ist Coco. Hastig steht er auf. Die Brille rutscht ihm zurück vor die Augen und fällt ihm dabei fast von der Nase.
»Coco«, begrüßt er sie überrascht, während er die Brille wieder zurechtrückt.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich einen Arzt gerufen habe, der nach Ihrer Frau sehen soll.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Atembeschwerden fesseln Jekaterina seit ein paar Tagen ans Bett. Sie war sogar zu schwach, um am Sonntag in die Kirche zu gehen.
»Und machen Sie sich keine Sorgen wegen der Kosten. Die übernehme ich.«
»Nein, das dürfen Sie nicht.«
»Seien Sie nicht albern. Sie sind meine Gäste. Ich ertrage es nicht, Leute unter meinem Dach krank zu sehen.«
»Aber das ist meine Sache. Es wäre eine Beleidigung für mich,
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