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Coco Chanel & Igor Strawinsky

Titel: Coco Chanel & Igor Strawinsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Greenhalgh
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äußerster Vorsicht zu Werke. Sie benötigen mehrere Anläufe, ehe es ihnen mit einem wohlbemessenen Ruck und einem geschickten Drehen gelingt, das Instrument in den Raum zu bugsieren. Josephs Kreuz schmerzt, und er streckt sich vorsichtig. Der Fahrer wischt sich über die Stirn, als er hinausgeht.
    Coco sieht, dass Igors Finger zucken. »Wollen Sie nicht spielen?«
    Er richtet den Blick erneut auf das Instrument. Ohne sich hinzusetzen, hebt er den Deckel an und legt die Hände auf die Tasten. Dann drückt er sie nieder. Er spürt, wie die Hämmer unter dem Eschenholzgehäuse und dem Ebenholzfurnier auf die Saiten schlagen und der Resonanzboden zu schwingen beginnt. Der Raum füllt sich mit einer Reihe heller Durakkorde. Die Töne verschmelzen mit dem Sonnenlicht und Cocos Gegenwart und wecken in ihm eine unbeschreibliche Freude, ein köstliches Gefühl der Freiheit. Es fühlt sich an, als habe man ihm seine Stimme zurückgegeben.
    Coco lächelt und staunt über die Leichtigkeit seines Spiels. Bald kommt es ihr vor, als übernähme etwas anderes die
Kontrolle, und es scheint, als führten seine Hände plötzlich ein Eigenleben. Die Sehnen und Knochen seiner Finger werden eins mit dem Holz, den Drähten und den Hämmern des Klaviers. Die Tasten wirken flüssig unter seinen Fingern.
    Jekaterina hört ihn bis ins Obergeschoss hinauf. Ein flaues Gefühl denht sich in ihrem Magen aus. Die freudigen Klänge verraten ihr, dass sie länger hierbleiben werden.
     
    Bis in den späten Abend hinein werden sorgfältig die Kisten ausgepackt. Die Strawinskys haben sich an ein Leben aus Koffern gewöhnt. Der Boden in ihren Zimmern ist mit Packpapierhaufen übersät, die Gegenstände häufen sich: Tassen, Löffel, Samoware, Briefbeschwerer, Apothekenfläschchen und Jekaterinas geliebte Ikonensammlung, außerdem alle Arten von kleinen Gerätschaften, darunter Taschenuhren, ein Barometer und ein Grammofon mit abnehmbarem Tonarm und faltbarem Trichter. Ein großes gerahmtes Porträt von Zar Nikolaus II. bekommt einen Ehrenplatz an der Wand von Igors Arbeitszimmer.
    Igor stellt das Metronom auf das Klavier und setzt es in Gang. Das Pendel schwingt in seinem pyramidenförmigen Gehäuse hin und her. Während er seinem Ticken lauscht, spürt er, wie in seinem Innern etwas Verborgenes wieder zum Leben erwacht. Es steckt etwas Vitales in diesem Akt, ein neuer Anfang. Einen Moment fühlt er sich wundersam befreit.
    Als Igor an jenem Abend hilft, die Kinder ins Bett zu bringen, hört er, wie seine ältere Tochter Ludmilla ihrer Schwester »Coco« zuwispert. Er schließt die Tür hinter sich und horcht kurz, wie sie kichern und den Namen in einen leisen Sprechgesang verwandeln, der ihm die Treppe hinunter folgt. Er bemerkt, dass auch er ihren Namen in seinem Kopf
wieder und wieder vor sich hin sagt und dabei in den Wölbungen der starken Vokale eine süße Rundheit entdeckt, wie von Löchern oder Sonnen.
     
    Im Haus entwickeln sich neue Routinen.
    Igor steht morgens wie immer um Punkt acht Uhr auf. Er macht fünfzig Rumpfbeugen und genauso viele Liegestütze, bis er die Adern in seinen Armen durch die Belastung anschwellen fühlt. Dann folgen weitere Dehnungsübungen. Es ist ein tägliches Ritual. Er ist stolz auf seine körperliche Verfassung und widmet sich dem Training mit geradezu militärischer Disziplin.
    Sein Frühstück umfasst zwei rohe Eier, die er in einem Zug hinunterschluckt, eine Zigarette und eine Tasse teerigen Kaffee. Der Rausch der ersten Zigarette vermischt sich mit dem Kaffee auf seiner Zunge zu einem angenehm bitteren Geschmack.
    Gewöhnlich arbeitet er den ganzen Morgen bis zum Mittagessen. Er arbeitet unermüdlich und kann sich über lange Zeiträume konzentrieren. Er mag es, wenn sein Leben durch Routine geregelt ist, und verspürt einen geradezu manischen Drang nach Ordnung. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer ist immer geschlossen. Äußeren Lärm erträgt er nicht, und er darf unter gar keinen Umständen gestört werden. Nur Wassili, dem Kater, ist der Zutritt erlaubt. Für alle anderen ist er streng verboten.
    Ausgebreitet wie die Instrumente eines Chirurgen liegen auf seinem Schreibtisch Taschenmesser, Brieföffner, Lineale, Radiergummis in verschiedenen Größen, ein mit Monogramm verziertes Zigarettenetui, ein Stifthalter und ein Gerät mit fünf Rädchen, das er selbst entwickelt hat, um Notenlinien zu ziehen.

    Coco hingegen ist auf ihrem Arbeitstisch von Nadelkissen, Fingerhüten in verschiedenen Größen,

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