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Coco Chanel & Igor Strawinsky

Titel: Coco Chanel & Igor Strawinsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Greenhalgh
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festknotet.
    »Jetzt loslassen.«
    Er nimmt den Finger weg, und der Knopf sitzt fest. Ohne nachzudenken, beißt sie den Faden mit den Zähnen ab. Sie lehnt sich zurück und begutachtet ihr Werk.

    »Na also!« Cocos Mund dehnt sich zu einem Lächeln und zwingt ein Grübchen in ihre linke Wange. Sie packt Nadel und Faden zusammen und schickt sich an, aus dem Zimmer zu gehen, als ihr wieder einfällt, warum sie überhaupt gekommen war. »Er kommt also gegen drei. Ich bin um die Zeit beim Haareschneiden. Joseph wird ihn hereinlassen.«
    Ihm ist bewusst, dass er ihr schon genug gedankt hat, und so nickt er nur. Er bleibt stehen und lauscht ihren Schritten, die im Korridor verhallen. Schon wieder schneiden! Ihr Haar ist doch so schon kurz wie das eines Jungen, denkt er.
    Dann setzt er sich wieder hin. Er schiebt die Brille zurück auf die Stirn, nimmt seinen Bleistift und macht sich erneut an die Arbeit. Seine weit auseinanderliegenden Hände bilden unterschiedliche Muster auf den Tasten. Plötzlich klingen die Kombinationen rund, die Töne voll und die Harmonien prall. Er greift hinauf zur Notenablage und verwandelt eine halbe Note in eine Viertelnote, indem er sie ausmalt.
     
    Mit Zeigefinger und Daumen zieht der Arzt Jekaterinas Lider hoch. Das Weiße ihrer Augen ist von einem filigranen Netz aus geplatzten Äderchen durchzogen.
    Mit einem Stethoskop horcht er ihre Brust ab, während sie tief ein- und ausatmet. Dann setzt sie sich auf, damit er ihren Rücken abklopfen und abhorchen kann. Schweigend lässt sie seine Untersuchungen über sich ergehen und spürt dabei, wie mühsam ihre Lunge arbeitet. Sie pfeift wie eine Ziehharmonika, wenn die Luft einströmt und kurz darauf wieder hinausgepresst wird, und einen Moment fragt sie sich, was er wohl hört. Sie lauert auf seine Reaktion, aber er lässt sich wenig anmerken. Er sieht sie nicht einmal an, während er das Stethoskop abnimmt und den Schlauch um seine Hand wickelt. Er selbst ist korpulent, mit gebräuntem Teint
und vollem dunklen Haar. Der Inbegriff strahlender Gesundheit. Wer würde auch einem Arzt vertrauen, bei dem es anders wäre?
    Jekaterina sieht, dass keine tiefen Falten seine Stirn furchen. Bislang hat nichts die glatte Haut gezeichnet. Sein Leben wurde nie aus der Bahn geworfen, denkt sie. Stattdessen hat er seinen Wirkungskreis klug auf jenen Rand der Stadt begrenzt, an dem sich nur die Reichen das Leben leisten können. Dank Patienten wie Chanel, die ihm gegen eine entsprechende Vergütung ihr körperliches Wohlergehen anvertrauen, kann seine Praxis unbeschwert immer weiter anwachsen. Jekaterinas Vater war Landarzt. Sie weiß, wie schwer es für ihn war, die Armen ihrer kleinen Stadt zu versorgen.
    »Und?«, fragt Igor. Er zieht sich in eine Zimmerecke zurück, um sich mit dem Arzt zu beraten. Ungeduld färbt seine Stimme.
    Der Arzt zwängt das Stethoskop zurück in seinen Koffer. Sein Blick verheißt nichts Gutes. »Die rechte Lunge ist sehr schwach«, sagt er. Er bemüht sich um Offenheit und spricht so laut, dass Jekaterina ihn hören kann. Sie lässt sich erschöpft zurück in die Kissen sinken. Es ärgert sie, dass die beiden Männer in ihren dunklen Anzügen über ihre Gesundheit reden, als wäre sie gar nicht da, als wäre sie kein Mensch mit Gefühlen und einem gewissen Einfluss auf sein Leben.
    Der Umzug nach Bel Respiro beunruhigt sie mehr, als sie sich eingestehen möchte. Sicher, die frische Luft und die Sonne sind bestimmt gut für ihre Gesundheit, wie Igor und Coco überzeugend behaupten. Aber was ist mit der faszinierenden Mademoiselle Chanel? Hatte sie vielleicht andere, dunklere Motive, sie hierher einzuladen?
    Das Leben im Exil fällt ihr schwerer als Igor. Er hat immerhin
noch seine Arbeit. Sie hingegen hat alles aufgegeben: ihre Freunde, ihren Besitz, das Gefühl, irgendwo dazuzugehören. Und das ständige Umherreisen hat ihre Gesundheit geschwächt. Das Einzige, was sie noch aufrecht hält, ist ihr tiefer Glaube. Der Glaube und die Liebe ihres Mannes.
    Als sie zur Seite schaut, fällt ihr Blick auf das Fenster und das mit Lilien geschmückte Fensterbrett. Die Blumen erscheinen ihr plötzlich bösartig: schlangenzüngig und giftig. Außerdem stinken sie. Sie weiß nicht genau, warum, aber in diesem Zimmer, in diesem von Gott verlassenen Haus fühlt sie sich verunreinigt. Ein plötzlicher Säuregeschmack bildet sich auf ihrer Zunge. Während sie beobachtet, wie sich ein keilförmiger Schatten dunkel über das Bett schiebt, kämpft

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