Coco Chanel & Igor Strawinsky
nach seinem Besteck und antwortet nicht. Er erlaubt ihr, ihm etwas Wein einzuschenken.
»Können wir das Tischgebet nicht einfach ausfallen lassen, wenn Jekaterina nicht dabei ist?« Verwundert hat Coco kürzlich festgestellt, dass die Familie vor jeder Mahlzeit ein Gebet spricht.
Igor wird zum Komplizen. »Meinetwegen«, antwortet er. Aber er kommt sich dabei vor wie ein Verräter, nicht nur an Jekaterina, sondern auch an seinem eigenen tief verwurzelten Glauben. Eine instinktive Loyalität regt sich in ihm. Ein starrer Zug in seinem Lächeln verrät Coco sein Unbehagen.
Sie wirft einen Blick auf die Kinder. Ihnen macht es nichts aus. Sie sprechen meistens Russisch, wenn sie nicht gerade mit leiernder Stimme ihre auswendig gelernten Floskeln an Mademoiselle Coco ausprobieren. Igor drängt sie unablässig dazu, »Bitte« und »Danke« zu sagen, und besteht darauf, dass sie ihr Besteck richtig halten. Wenn es doch nur tagsüber auch so wäre, denkt Coco. Seit ihre Mutter krank ist, rennen sie den ganzen Tag unbeaufsichtigt herum, zanken, streiten und lärmen. Igor scheint währenddessen weitgehend blind zu sein für ihre Bedürfnisse. Und so kommen sie ständig zu ihr und stören sie bei der Arbeit. Dabei hat sie genauso viel zu tun wie er, wenn nicht sogar mehr.
Großzügig, wenn auch nicht ganz uneigennützig, hat sie für die Sommermonate eine hiesige Erzieherin als Hauslehrerin eingestellt. Schließlich muss ja jemand ein Auge auf die Kinder haben und sich um sie kümmern. Aber nicht sie!
Mit herzhaftem Appetit widmet sie sich ihrer Vorspeise aus Chicorée und Gruyère. Einen Moment herrscht Schweigen, ehe sie sich wieder an Igor wendet: »Und gefällt es Ihnen hier?«
»Ja, das tut es. Sehr«, sagt er und schüttelt sein Unbehagen ab.
»Aber Sankt Petersburg ist Ihnen lieber.«
Schon wieder ein Angriff. Sie gönnt ihm keine Pause. »Nicht unbedingt. Aber ich mag die Stadt jetzt lieber als je zuvor.«
»Jetzt, wo Sie nicht mehr dorthin zurückkönnen?«
Er trinkt einen Schluck Wein, und die Verzögerung verleiht seiner Antwort noch mehr Nachdruck. »Genau.«
»Aber Ihre Frau vermisst Sankt Petersburg sehr, nicht wahr?«
Er stellt das Glas zurück auf den Tisch und legt die Finger um den Griff. Erst jetzt wird ihm bewusst, wie sehr sich Jekaterina, eingeschüchtert durch Cocos Gesellschaft, in ihre eigene scheue Welt zurückgezogen hat. Aber er kann ihr daraus keinen Vorwurf machen. Ihn schüchtert ihre Gastgeberin ja auch ein.
»Das Leben hier muss sehr schwer für sie sein.«
»Ja.« Er senkt den Blick auf seinen Teller.
»Und die Kinder?«
»Kinder passen sich an. Das tun sie immer.« Sein Blick wechselt zu den vieren hinüber, und erneut regt sich sein schlechtes Gewissen. Während er sie anschaut, springen ihm Jekaterinas Züge aus ihren Gesichtern entgegen wie farbige Streifen in einem Teppich.
Doch nach einer Weile entspannt sich Igor, genau wie seine Kinder, er wird lebhafter, und seine Befangenheit verfliegt. Coco spürt die Veränderung. Sie unterhalten sich über ihre beruflichen Ziele, erst noch zögerlich, dann immer leidenschaftlicher.
Sie will die Frauenmode demokratisieren, er den Musikgeschmack neu definieren. Sie reden voller Eifer und Überzeugung, entdecken ihre gemeinsame Abneigung gegen Prunk und überflüssige Verzierungen. Sie verabscheut Volants und Falbeln, Gerüschtes und Gebauschtes. Er äußert sich voller Verachtung über die hohle Dekorativität zeitgenössischer Musik, über ihre zähen Rhythmen und klebrigen Melodien.
Sie ist fest entschlossen, nicht hinter ihm zurückzustehen. Ihre Arbeit ist nicht weniger Kunst als die seine. »Und wenn Gott uns nicht von Anfang an in Kleider gehüllt hat«, erklärt sie, »dann braucht es eben einen zweiten Schöpfungsakt, um dieses Versäumnis zu korrigieren.«
Sie erzählt ihm, wie gerne sie mit Jersey arbeitet. Abgesehen von der Tatsache, dass die meisten anderen Stoffe nach dem Krieg nicht mehr zu bekommen waren, vereint Jersey mehrere Vorteile auf sich: Das Material ist billig, elastisch und bequem beim Tragen. »Man kann doch schlicht und dabei gleichzeitig elegant gekleidet sein«, sagt sie. »Wenn man in einem Kleid nicht laufen und tanzen kann, wozu soll man es dann tragen? Und wenn ein Stoff nicht besonders kostbar ist, kann man ihn immer noch mit Stickereien, Perlen, Spitze oder Fransen verzieren. Oft genügt nur ein Halstuch, und schon sieht man, wie selbst die schlichteste Kleidung aufgewertet werden kann.«
Igor
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