Coco Chanel & Igor Strawinsky
sie gegen den Brechreiz.
Igor bemerkt den Ärger seiner Frau, doch aus Angst vor dem, was der Arzt möglicherweise zu sagen hat, führt er ihn hinaus. Die beiden Männer gehen die Treppe hinunter und bleiben unten im Flur stehen. Zwei surrende Schmeißfliegen umkreisen wie von Sinnen eine Lampe.
»Hat sie Blut ausgehustet?«, fragt der Arzt ernst.
»Nicht in letzter Zeit.«
»Gibt es eine entsprechende Vorgeschichte?«
»In ihrer Jugend litt sie an leichter Tuberkulose«, räumt Igor ein. »Nach der Geburt unserer jüngeren Tochter kam es wieder.«
»Wann war das?«
»Vor sechs Jahren …«
Das scheint einen Verdacht zu bestätigen. Der Arzt nickt und beißt sich dabei auf die Lippen. »Nun, es könnte sein, dass sie wieder entsprechende Symptome zeigt.«
Igors hängende Schultern verraten seine Sorge. »Ist es ernst?«
»Sie braucht gute Pflege.«
»Gibt es etwas, das sie tun sollte?« Er hebt eine Hand ans Gesicht und streicht mechanisch über seine Wange.
»Sie braucht viel Bettruhe und frische Luft. Ein wenig Spazierengehen wäre ganz gut. Aber nichts, was sie zu sehr anstrengen würde, verstehen Sie? Leichte, aber regelmäßige Bewegung. Außerdem ist sie sehr dünn und sollte etwas mehr essen. Sie muss Kräfte sammeln.«
»Natürlich.« Immer noch streicht Igor sinnlos über seine Wange.
»Ich habe ihr ein leichtes Beruhigungsmittel verschrieben. Es soll ihr dabei helfen, sich auszuruhen, und ihr das Atmen erleichtern. Aber sie wird davon auch etwas schläfrig.«
Nachdem die beiden Schmeißfliegen eine Weile im Lampenschirm herumgeschwirrt sind, landen sie nun an der Decke. Beide Männer bemerken die plötzliche Stille.
»Ich danke Ihnen, dass Sie so kurzfristig kommen konnten.«
Die Kinder scharen sich um sie. »Wird Mama bald wieder gesund?«
Igor spürt, wie ihn die Liebe zu diesen jungen Geschöpfen durchströmt. Der Arzt berührt ihre Köpfe, als wollte er sie heilen. »Keine Sorge, sie ist bald wieder auf den Beinen«, sagt er. Zum ersten Mal lächelt er, und Igor wünscht, seine Frau könnte ihn sehen.
Wie aus dem Nichts taucht Joseph auf. Er reicht dem Arzt seinen Hut und öffnet die Tür. Ein scharf umrissenes Rechteck aus Licht rahmt sie ein und lässt sie kurz blinzeln.
»Grüßen Sie Mademoiselle Chanel von mir.«
»Das mache ich.«
Respektvoll hat der Arzt vor dem Tor geparkt. Der Kies in der Auffahrt knirscht unter seinen Füßen. Das Geräusch hallt
lauter in Igors Ohren, als es sollte. Die Luft scheint ihre Fähigkeit, Geräusche zu übertragen, mit dem gleißenden Licht gesteigert zu haben.
Er spürt ein bohrendes Schuldgefühl in sich anschwellen. Die Nachricht von Jekaterinas Krankheit erfüllt ihn mit gemischten Gefühlen. Kummer über ihre erneute Erkrankung verbindet sich mit Erregung bei dem Gedanken, dass ihre Genesung ihm mehr Zeit mit Coco schenken könnte. Dann kommt ihm die instinktive Loyalität seiner Kinder in den Sinn, und er fühlt sich erbärmlich, weil er solchen Wunschträumen nachhängt. Aber dunkel reifen sie in seinem Innern heran und wollen einfach nicht verschwinden.
Er denkt an die vergangenen sechs Jahre zurück, in denen er sich um seine Frau gekümmert hat; daran, wie schwer es ist, die Anforderungen seiner Arbeit mit ihrer Pflege in Einklang zu bringen. Er hat viel geopfert. Aber er ist kein Heiliger. Natürlich liebt er sie, und er kann sich nicht vorstellen, jemals ohne sie zu sein. Sie ist die Mutter seiner Kinder. Und doch fühlt er hier, hineingeworfen in eine Welt voller Möglichkeiten, eine Fülle neuer Hoffnungen in sich aufsteigen. Mit achtunddreißig Jahren, und immer noch unter der Ungerechtigkeit des Exils leidend, sehnt er sich nach Bestätigung, nicht nur als Musiker, sondern auch als Mann.
Coco schiebt die Ärmel hoch und setzt sich zum Abendessen hin. Sie trägt eine Bluse mit Matrosenkragen und einen langen Strickrock. Ein schwarzes Haarband zeichnet den dunklen Bogen ihrer Augenbrauen nach.
»Keine Jekaterina heute Abend?«, fragt sie, als sie ihre Serviette aufschüttelt. Sie kann die Tatsache nicht verleugnen, dass sie sie für eine Simulantin hält. Sie hasst ihr ständiges Nörgeln und diese geistlose Art, die Treppe herunter
nach Marie zu rufen. Coco kann sich nicht erklären, wie Igor es mit ihr aushält. Sie scheint nichts für ihn zu tun.
»Ich fürchte nicht«, sagt Igor. Er schildert ihr kurz, wie der Besuch des Arztes verlaufen ist.
»Freut mich zu hören, dass es nicht allzu schlimm ist.«
Igor greift
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