Coco Chanel & Igor Strawinsky
jetzt ist er fort. Das ertrage ich einfach nicht.«
Er streckt eine Hand aus und legt sie auf die ihre. Eine Geste des Trostes, tief empfunden und menschlich.
Ihre Finger reagieren kaum merklich. Sie fühlt die Haare auf seinen Fingern, während sie über ihre Handfläche streichen. Das Metall seines Rings ist überraschend kühl. »Ich war ein Nichts, bevor ich ihn kennenlernte. Er hat mich geschaffen. Aber wissen Sie was? Ich habe ihm sein Geld zurückgezahlt, jeden einzelnen Penny. Mein Geschäft habe ich ganz allein aufgebaut.«
In ihren Blicken liegt eine Zärtlichkeit und Tiefe, die den Abstand zwischen ihnen schmelzen lässt.
Ihre freie Hand spielt mit einem Serviettenring.
Joseph kommt herein, um zu fragen, ob sie Kaffee wünschen. Schockiert über die Gegenwart eines andern, greift Igor hastig nach seinem Glas. Bis zu diesem Augenblick war ihnen nicht bewusst, wie gut sie sich verstehen. Nach dieser Erkenntnis ziehen sich beide wieder ein Stück zurück, und
die frühere Befangenheit steht erneut zwischen ihnen. Ein instinktiver Impuls lässt sie gleichzeitig nach einer Zigarette greifen. Und nein, sie wünschen keinen Kaffee, danke.
Lautlos schließt Joseph die Tür. Igor bricht ein Streichholz aus einem Briefchen, das er als Andenken in einem Schweizer Hotel bekommen hat. Er muss es zweimal über die Reibfläche ziehen, ehe es sich entzündet. Coco neigt den Kopf vor. Mit der Zigarette zwischen den Lippen schiebt sich ihr Gesicht in sein Blickfeld. Der Tabak flammt auf. Sie lehnt sich zurück. Rauch steigt in Kringeln und Fäden über dem Tisch auf.
»Kaffee würde mich nur die ganze Nacht wachhalten«, sagt sie.
Ein Lippenstiftrand erscheint wie eine Wunde am Ansatz ihrer Zigarette.
»Mich auch«, antwortet Igor.
Kapitel 7
LEISE KLOPFT COCO an Jekaterinas Schlafzimmertür. Nach einer kurzen Pause dringt ein schwaches »Herein« aus dem Zimmer. Sie macht einen Schritt hinein, darauf bedacht, sich nicht zu weit vorzuwagen, und hält die Tür fest, während sie um die Ecke lugt.
Im Zimmer ist es stickig. Die Vorhänge sind halb zugezogen, die Luft riecht nach Schweiß und Krankheit. Lang gezogene Klaviertöne klingen von unten herauf. »Ich bin es nur«, sagt Coco.
Jekaterina hebt den Kopf vom Kissen. »Ja, kommen Sie herein.« Auf dem Bett liegen mit ihren Anmerkungen versehene Notenblätter.
Coco zieht einen Stuhl heran. Sie blickt in Jekaterinas schmales, blasses Gesicht. Ihre Wangen sind eingefallen, und die Haut spannt sich über den Knochen. Ihre Augen sind geschwollen, was sie ständig erschreckt wirken lässt, und darunter liegen dunkle, ausgezehrte Schatten. Kaum ist ihr Kopf aufs Kissen zurückgesunken, als sie sich auch schon wieder aufsetzen muss, um einen heftigen Hustenanfall zu unterdrücken. Das harte, trockene Rasseln lässt Coco erschauern. Es erinnert sie an die Weberschiffchen in einer Textilfabrik.
Nachdem sich Jekaterina von ihrem Anfall erholt hat, wird sie sich bestürzt ihres Aussehens bewusst. Sie bemüht sich, ihr weizenblondes, vom Schlaf noch feuchtes Haar zu glätten.
»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«, fragt Coco.
»Ich habe schon eins hier, danke.«
Mechanisch greift sie über den Nachttisch nach ihrem Glas. Das Wasser ist lauwarm und abgestanden. Sie trinkt ein paar Schlucke, dann setzt sie das Glas wieder ab.
»Es tut mir leid, dass Sie sich in letzter Zeit nicht wohlfühlen.«
Jekaterina spürt ein gewisses Pflichtgefühl in Cocos Besuch. »Mir tut es auch leid«, sagt sie.
In ihrer Antwort klingt eine Schärfe mit, die Coco dazu bringt, sich aufrecht hinzusetzen und sich zu konzentrieren. Schnell revidiert sie ihren ersten Eindruck. Jekaterina ist keine jämmerliche Gestalt. Sie sieht ihr an, dass sie die Gesellschaft von Dummköpfen nicht erträgt. Sie ist eine ernsthafte, gebildete Frau. Bücher stapeln sich rings um ihr Bett: Gedichte, Romane und theologische Werke. Ihr Französisch ist besser als das von Igor - flüssiger und weniger gekünstelt. Als Studentin hat sie drei Jahre in Paris verbracht. Aber Coco kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihr Intellekt auf Kosten von Vitalität und Lebensfreude errungen wurde. Sie hasst es, wenn Menschen krank sind, es fällt ihr schwer, ihre Leiden zu tolerieren. Wenn sie ehrlich ist, muss sie sich eingestehen, dass es auch mit einem gewissen Klassendenken zu tun hat. In Cocos Augen verkörpert Jekaterina die Anämie der oberen Schichten, die Schlaffheit des blauen Blutes, die Schwäche einer
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