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Coco Chanel & Igor Strawinsky

Titel: Coco Chanel & Igor Strawinsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Greenhalgh
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wie eine Null, in die alles hineingezogen wird.
    Obwohl Igor sie begleitet, hat sie sich noch nie so allein gefühlt.
    »Danke«, sagt er und schüttelt dem Radiologen die Hand.
    Schon gut, denkt sie, er will ihr keine unnötige Angst machen, aber muss er diesem Mann wirklich so herzlich danken? Er hat gerade erfahren, dass seine Frau an Tuberkulose leidet. Ist ihm nicht klar, dass sie damit ihr Todesurteil erhalten hat? Versteht er nicht, dass sie sterben könnte? Ihr eigener Händedruck ist widerstrebender, zurückhaltender.
    Später sagt Igor all die richtigen Dinge und beruhigt sie mit den passenden Worten, aber genau wie bei der Röntgenaufnahme scheint etwas zu fehlen. Sie kann nicht genau sagen, was es ist: eine tiefere Überzeugung in seinen Worten vielleicht oder ein tröstlicherer Klang in seiner Stimme. Alles, was sie weiß, ist, dass es eine Kluft zwischen ihnen gibt, oder eine Barriere, eine Art Mauer. Ob es daran liegt, dass er lebendig und gesund ist, sie dagegen krank? Kann es so einfach sein?
    Am nächsten Morgen wacht sie verängstigt und schweißüberströmt auf, sie fühlt sich erschöpft, als habe sie alles Leben bereits abgestreift. Als sie sich umdreht und das leere Kissen neben sich sieht, kommt sie sich plötzlich klein und wertlos vor.

    Igor ist schon unten bei der Arbeit, sie hört ihn auf das Klavier einhämmern. Aus einem fernen Winkel des Hauses dringen die Stimmen der Kinder an ihr Ohr. Und dann sickert noch etwas anderes schmerzhaft in ihr Bewusstsein: Es ist Cocos Stimme. Sie singt ihnen etwas vor.

Kapitel 20
    IGOR BEENDET SEIN morgendliches Pensum am Klavier mit einem schwungvollen Glissando. Die Tasten wellen sich unter seinen Handrücken wie Filmstreifen, die in einen Projektor eingeführt werden. Er verlässt sein Zimmer und geht den Flur entlang bis zu Cocos Arbeitszimmer. Seit ihrem Streit in Paris vor zwei Tagen ist sie ihm aus dem Weg gegangen.
    Als er hereinkommt, sitzt sie an ihrem Schreibtisch und arbeitet. Sie hat Stoff für eine weiße Tunika und einen schwarzen Hut herausgelegt. Der Kontrast zwischen dem weißen Hemd und der schwarzen Maske im Film, zwischen dem weißen Pferd und dem schwarzen Umhang hat sie beeindruckt. Der Anblick hat sie in ihrer Überzeugung bestärkt, wie sehr Schwarz alle andere Farben dominiert. Sie erinnert sich an ihre eigenen Jahre in der Klosterschule, als sie gezwungen war, eine schwarz-weiße Uniform zu tragen, genau wie die Nonnen.
    Sein Gesicht schiebt sich in ihr Blickfeld. Als sie ihn bemerkt, lehnt sie sich auf ihrem Stuhl zurück.
    »Hörst du denn nie auf?«, fragt er. Er ist es nicht gewöhnt, Frauen arbeiten zu sehen; zumindest keine Frauen der Gesellschaft. Genau wie seine Frau findet er so etwas irgendwie unschicklich.
    Sie spürt seinen Widerwillen gegen ihre Arbeit. Aber genau das ist es, was sie beflügelt, was sie schon immer angetrieben hat: der feste Wille, sich zu beweisen und einen neuen Sinn für weibliche Eleganz mit den praktischen Bedürfnissen
ihrer Geschlechtsgenossinnen zu versöhnen. »Nein, ich höre nie auf.« Er soll ruhig wissen, dass sie noch immer wütend auf ihn ist.
    Igor steht zögernd an der Tür. Mit einem Nicken fordert sie ihn auf, hereinzukommen. Dann beugt sie sich über den Tisch und greift nach einem Stück Wolle. Flink windet sie es sich um die Finger.
    »Hier«, sagt sie und hält ihm ein improvisiertes Fadenspiel hin. Geschickt schiebt sie es auf seine Finger. Ein Olivenzweig. »So, jetzt du.«
    In Igors Händen verheddern sich die Fäden bald, und das ganze Gebilde fällt in sich zusammen.
    »Du bist hoffnungslos«, sagt sie neckend. »Schau noch einmal, wie ich es mache.« Wieder schlingt Coco den Faden um seine Finger. »So. Versuch es noch einmal.«
    Er bemüht sich ein zweites Mal, und wieder sackt das Ganze schlaff zwischen seinen Händen zusammen.
    »Schon gut«, sagt Coco in gespielter Verzweiflung. »Lass uns etwas anderes probieren.«
    »Aber diesmal etwas Einfacheres«, protestiert er.
    Sie schlingt die Wolle vor seinen Augen zu einer Kette. »So, jetzt geht es darum, den einen Faden zu finden, an dem man ziehen muss, damit sich alles entwirrt. Siehst du?« Sie zupft leicht an einem der Fäden und das ganze Geflecht löst sich auf. »Verstanden?«
    Flink verwandelt Coco die Wolle wieder in eine Kette, die sie vor Igor in die Höhe hält. Vor lauter Konzentration schiebt sich seine Zunge über seine Oberlippe. Eine Weile zögert er, seine Hand verharrt reglos in der Luft, dann zieht

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