Coco Chanel & Igor Strawinsky
der Dunkelheit spüren sie eine Vertrautheit, eine innere Ruhe, die sie beide glücklich macht. Es tut gut, abends aus dem Haus wegzukommen und auch weg von ihrer Arbeit. Hier, zusammen, fühlen sie sich sorglos und frei.
Der Film ist spannend und enthält viele Duellszenen. Als Igor sieht, wie Douglas Fairbanks seine akrobatischen Sprünge vollführt, juckt es ihn, es ihm nachzutun. Bei jedem neuen Sprung zucken seine Beine unwillkürlich mit.
Außerdem beeindruckt ihn der Pianist, ein junger Mann Anfang zwanzig, der mit offenem Mund im Parkett sitzt und
auf die Leinwand starrt. Seine Musik unterstreicht die Handlung, die er sieht, und verleiht den schwarz-weißen Bildern, die über sein Gesicht rieseln, Farbe.
Überleitungen oder vermittelnde Passagen gibt es nicht. Die Übergänge sind abrupt, denn er muss unmittelbar auf die visuellen Eindrücke reagieren. Igor quittiert den Einfallsreichtum des jungen Mannes, sein präzises zeitliches Gespür und sein Einfühlungsvermögen in die Stimmung auf der Leinwand mit einem zustimmenden Nicken. Aber der Klang des Klaviers, das vor allem in den höheren Registern etwas zu tief gestimmt ist, lässt ihn erschauern. Es scheint die Handlung regelrecht zu verlangsamen. Er fragt sich, ob der Pianist den Film schon einmal gesehen hat und vorher proben konnte oder ob seine Darbietung tatsächlich vollkommen spontan ist.
Von einer Szene auf der Leinwand ist er wie elektrisiert: Zorro umschlingt seine Geliebte grob mit einem Arm und zieht sie an sich. Die Frau - zerwühlt, dunkelhaarig, zigeunerhaft anmutend - lehnt sich gefügig nach hinten, als er sich tief zu ihr hinunterbeugt, um sie zu küssen. Bei diesem Anblick spürt Igor einen süßen Schmerz, das ferne Pochen einer leisen Schwellung in seiner Hose. Erstaunt darüber, dass der Film ihn derartig aufwühlt, rutscht er verlegen in seinem Sessel herum. Coco errät den Grund für sein Unbehagen. Und mit einem leisen Räuspern, das seine Bestürzung und Erregung überdecken soll, erlaubt er ihren Fingern, für ein paar freimütige Sekunden verstohlen über seinen Schenkel zu gleiten.
Als Misia dies aus dem Augenwinkel bemerkt, zieht sie eine Augenbraue hoch. »Es läuft also gut, wie ich sehe«, flüstert sie Coco kurz darauf zu.
»Zufriedenstellend, danke.« Coco nickt lächelnd.
Als sie später das Kino verlassen, bemerken sie erstaunt, dass es dunkel geworden ist. Die beiden Paare gehen in eine nahe gelegene Bar. An einem Tisch am Fenster diskutieren José und Igor über den Film. José hält es für unglaubwürdig, dass Zorro so athletisch dargestellt wurde. Er argumentiert, dass er solche Sprünge und Stürze unmöglich hätte überleben können. Das seien doch alles Kameratricks gewesen, behauptet er. Igor hingegen ist davon überzeugt, dass die Bewegungen authentisch waren. Er hat irgendwo gelesen, dass Fairbanks Turner sei und alle akrobatischen Einlagen selbst ausführe. Sie wetten um einen geringen Einsatz.
Gegenüber von ihnen erzählt Coco Misia von ihrem Ausflug nach Grasse zu Ernest Beaux und davon, wie sie in den vergangenen Wochen die ersten Muster an Kundinnen verschickt hat. Flüsternd bringt sie sie anschließend auf den neuesten Stand der Ereignisse in Bel Respiro. Igor bemüht sich vergeblich, sie zu belauschen. Er ärgert sich darüber, dass Coco Misia ins Vertrauen zieht, und wünscht, sie würde es lassen. Misias Schwatzhaftigkeit beunruhigt ihn. Sie ist ein unverbesserliches Klatschweib. Er hasst es, wie sie die Tatsachen verdreht und verzerrt. Und wenn sie schon bei Diaghilew geplaudert hat, wem hat sie sonst noch davon erzählt? Er mag diese Frau nicht, ihr feuerrotes Haar und ihre orientalischen Fächer. Er schafft es nicht, ihr mehr als nur Höflichkeit entgegenzubringen.
Gegen Mitternacht verlassen sie die Bar und treten hinaus in die angenehm kühle Nachtluft. Der Himmel hängt voller Sterne. Die Paare küssen sich zum Abschied, und die Serts rufen ein Taxi.
»Wir könnten heute Nacht in der Rue Cambon bleiben«, schlägt Coco vor.
»Sollten wir nicht lieber nach Garches zurückfahren?« Er
macht sich Sorgen, was Jekaterina wohl dazu sagen würde, aber er denkt auch an seine Arbeit. Wenn sie die Nacht in Paris verbringen würden, wäre ein ganzer Morgen verloren, ehe Coco aufgestanden wäre und sie endlich nach Garches zurückkehren könnten. Und es gibt doch so vieles, mit dem er vorankommen muss.
Sie legt sich eine Strickjacke um die Schultern. »Es ist schon spät. Die Wohnung ist
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