Coco Chanel & Igor Strawinsky
verschiedenen Taktarten zu schreiben und mit synchronen, aber widerstreitenden Rhythmen zu jonglieren. Beim Komponieren versucht er, die Richtung, in die sich das Stück bewegt, nicht zu stark festzulegen, sondern den Linien zu folgen, die sich aus der Musik heraus entwickeln.
Seit einiger Zeit interessiert er sich besonders für die Spannungen zwischen zufälligen, ungeordneten Elementen und konventioneller orchestrierten Teilstücken. Er hat eine gewissermaßen zufällige Schönheit im gleichzeitigen Klingen benachbarter Akkorde entdeckt, die er weiter erforschen möchte. Im Muster der schwarzen und weißen Tasten erkennt er potenzielle Akkorde, ungespielte Melodien und
bislang unerreichbare Harmonien, die sich plötzlich in sein Blickfeld schieben. Er versucht, sie einzufangen und umzusetzen, und vertraut seinem Instinkt, ihnen konsequent bis zum Ende zu folgen.
Meist geht er in seinen Kompositionen von der Basslinie aus und baut darauf auf. Mithilfe des Metronoms spielt er Phrasen in verschiedenen Tempi durch. Er schichtet Arpeggios in C und Fis übereinander. Weiße und schwarze Töne, Tonika- und Dominantakkorde, Dur und Moll gleichzeitig in einer Tonlage. Ein Summen wächst in seinem Kopf heran. Ein polytonaler Klang. Es ist eine Empfindung, die der Wirkung eines grellen Farbkleckses an einer Wand vergleichbar ist, und wenn er die Augen schließt, kann er beinahe seinen Umriss erkennen wie einen zitternden Fleck auf seiner Netzhaut. Er bemüht sich, den Lärm in seinem Kopf mit den Tönen in Einklang zu bringen, die ihm auf der Klaviatur zur Verfügung stehen. Fest entschlossen, eine Übereinstimmung zu erzwingen, kritzelt er Noten auf die Linien. Für ein paar Minuten scheinen die inneren und äußeren Klänge deckungsgleich.
Er spürt, wie sich seine Existenz einem unsichtbaren Tastenmuster entsprechend formt. Er erinnert sich an das himmlische Insektensummen, das er im Garten gehört hat, und er hält inne und denkt darüber nach, in welchem Ausmaß sein Leben hier festgelegt und vorherbestimmt ist - wie die Notenrollen für ein mechanisches Klavier. Plötzlich fühlt er sich schwerelos, als würde sein ganzes Dasein von einer äußeren Macht gelenkt.
Er schreibt wie von Sinnen und kann die Takte gar nicht schnell genug füllen. Das Komponieren ergreift von ihm Besitz. Für einen Mann, der so sehr daran gewöhnt ist, jedes Detail in seinem Leben unter Kontrolle zu haben, ist das ein seltsames Gefühl. Der Impuls überwältigt ihn, und das
unaufhaltsame Fließen der Noten verleiht seinem Körper Schwung. Er spürt, wie sein Kopf heiß wird. Die dünne Haut an seinen Ohren glüht.
Als er fertig ist, lehnt er sich erschöpft zurück. Doch er möchte noch einmal sehen, was er geschrieben hat. Je länger er liest, desto größer wird seine Erregung. Oder täuscht er sich etwa? Ist es gar nicht brillant? Spontan will er Jekaterinas Meinung dazu hören. Normalerweise ist sie die Erste, der er seine Arbeiten zeigt. Sie ist seine beste und erbittertste Kritikerin, seine gewissenhafteste Kopistin. Auf ihre Ehrlichkeit kann er sich immer verlassen. Er möchte zugern wissen, was sie davon hält. Wird es ihr gefallen? Wird es ihre Zustimmung finden? Aber ihm ist klar, dass er sie nicht fragen kann. Es wäre eine Beleidigung, ihr etwas zu geben, das so offensichtlich von seiner Lebenskraft zeugt. Ihr diese Seiten jetzt als Beweis dafür zu präsentieren, wie gut es ihm geht, würde ihr das eigene Leiden nur noch schmerzlicher vor Augen führen. Es wäre so, als würde er ihr eine Aktzeichnung einer anderen Frau zeigen und sie fragen: Gefällt sie dir?
Igor dreht sich eine Zigarette und schmeckt den Tabak auf der Zunge. Als er sie anzündet, lässt ihn der Rauch kurz blinzeln. Er betrachtet die Bilder seiner Kinder auf dem Schreibtisch und den ovalen Bilderrahmen mit einer frühen Aufnahme von Jekaterina. Die Fotos und ihre Details erscheinen ihm wie ferne Studien des Glücks, Bilder aus einem früheren Leben.
Seit er ihr seine Untreue eingestanden hat, scheint sie sich fast völlig in sich zurückgezogen zu haben. Sie kommt nicht mehr zum Mittag- oder Abendessen herunter und geht nur noch allein im Garten spazieren. Sie überhäuft ihn nicht länger mit Beschimpfungen, sondern leidet schweigend und wendet sich ab, sobald er das Zimmer betritt. Ihm ist aufgefallen,
dass sie auch nicht mehr weint. Sie ist emotional ausgelaugt und hat einfach nicht mehr genug Kraft, ihm eine Szene zu machen. In ihren Zügen spiegelt
Weitere Kostenlose Bücher