Coco Chanel & Igor Strawinsky
heiß.«
Er denkt an den Streit mit Jekaterina zurück. Es deprimiert
ihn, darüber nachzudenken, was als Nächstes passieren könnte. Im Moment stehlen sich er und Coco so viele ungestörte Momente wie möglich. Sie haben ihre Nachmittage in Paris. Aber es wäre besser, auch die Nächte zusammen zu verbringen, sich an das Atemgeräusch des anderen zu gewöhnen und die ganze Nacht über die Haut des anderen an seiner eigenen zu spüren. Gleichzeitig ist Igor fest entschlossen, ihre Beziehung diskret zu halten. Er will weder Jekaterina demütigen noch die Kinder verletzen. Und im Grunde weiß er gar nicht so genau, was er nach der entsetzlichen Szene an diesem Morgen fühlt. Vor allem eine innere Starre. Und Traurigkeit. Sich um die Vögel zu kümmern schenkt ihm mönchische Ruhe.
»Na ja, es dauert nicht mehr lange, dann wird es wieder viel kälter, falls dich das tröstet. Vielleicht müssen die Vögel dann weiter nach Süden fliegen.«
»Der Zugdrang kann Vögel wahnsinnig machen. Manche sollen sogar mit dem Kopf gegen die Käfigstangen schlagen.«
Sie gibt ihm den Papagei zurück. Behutsam setzt er ihn wieder in den Käfig. Dann steckt er einen Finger durch den Draht und lässt einen anderen spielerisch nach seinem Fingernagel picken.
»Ich hoffe, dir geht es nicht genauso.«
Mit Coco zusammen zu sein ist so, als wäre man die ganze Zeit betrunken, denkt er. Es ist herrlich, aber er fragt sich, wie lange er diesen Zustand aushält. Sie versetzt ihn in einen Rausch, er hat sich noch nie so leicht gefühlt. Dieses Gefühl ist unglaublich, wie der leise Schwindel bei der ersten Zigarette. Er kann sich nicht konzentrieren. Manchmal wünscht er sich, einfach aufzutauchen und nach Luft zu schnappen. Und körperlich laugt sie ihn aus. Sie ist ein lüsternes
kleines Biest, wie eine Schlange scheint sie Beute verschlingen zu können, die doppelt so groß ist wie sie selbst.
»Und?«
»Was?«
»Geht es dir genauso?«
Er wendet sich vom Käfig ab und ihr zu. »Weißt du, was ich vermisse?«, fragt er.
»Sag es mir.«
»Schnee«, antwortet er. Er passt zu der momentanen Leere in seinem Geist.
»Schnee?«
»Ja. Echten Schnee. Nicht das pulverige Zeug, das ihr hier habt, sondern gewaltige Mengen davon, die tagelang fallen und sich überall auftürmen.«
Coco berührt Igors Hand und winkt ihn näher zu sich heran. »Komm mit.«
»Was?«
»Es ist die Hitze. Mir macht sie auch zu schaffen, verstehst du?«
»Jetzt?«
»Ja. Ich will dich, in meinem Schlafzimmer.«
»Aber …« Er erinnert sich daran, dass die Kinder in der Schule sind. Die Entscheidung wird ihm abgenommen. Er gibt nach. Die Stärkere gewinnt, wieder einmal.
Sie schleichen sich aus dem Schuppen und huschen nach oben. Ohne Widerspruch zu dulden, lotst ihn Coco zum ersten Mal in ihr Bett.
Eine Stunde später sitzt sie an ihrem Fenster und sieht Igor unten im Garten. Spontan holt sie ein Kissen und beginnt, mit beiden Händen die Federn herauszureißen, dann geht sie zurück ans Fenster und legt den Haken um.
Als Igor hört, wie das Fenster über ihm geöffnet wird,
schaut er nach oben. Er muss eine Hand heben, um seine Augen gegen die Sonne abzuschirmen. Coco beugt sich lächelnd heraus. Er sieht sie fragend an.
»Hier hast du deinen Schnee!«, ruft sie unvermittelt.
Und sie lässt einen Schneesturm aus Federn fallen, die in einer weißen Wolke auf seinem Kopf und seinem Jackett landen. Noch ein paar Hände voll gesellen sich zu dem weichen, weißen Sturm, und die Federn schweben luftig hin und her. Er kann kaum noch etwas sehen, als sie wirbelnd das Sonnenlicht einfangen und brechen, ihn blenden mit ihrer Verheißung eines dahinterliegenden Lichts.
Kapitel 23
IM TAKT EINER inneren Melodie geht Igor in seinem Arbeitszimmer hin und her. Er hat den Kopf gesenkt und summt leise, kaum hörbar vor sich hin. Sein Geist greift nach dem Rhythmus, der in seinem Kopf herumspukt. Dann setzt er sich hin, um die Musik aufzuschreiben, sie zu packen und festzuhalten.
Sich selbst Grenzen, Beschränkungen, Zwänge aufzuerlegen ist seiner Ansicht nach der beste Weg zu kreativen Lösungen. Absolute Freiheit, die vollkommene Autonomie der leeren Seite ist allzu oft nichts anderes als die Freiheit, in den Ozean zu springen. Er braucht etwas, an dem er sich reiben kann, das Äquivalent zu einem Netz beim Tennis: etwas, über das er den Ball schlagen kann. Bei den Bläser-Sinfonien hat er sich dieses Hindernis durch die Vorgabe geschaffen, parallel in
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