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Coco Chanel & Igor Strawinsky

Titel: Coco Chanel & Igor Strawinsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Greenhalgh
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rasch wieder aus ihrem Körper, zusammen mit ihrer letzten Energie.
    »Sie ist keine Hure, Jekaterina«, korrigiert er sie mit ruhiger Stimme.
    Sie spürt ein wundes Gefühl in der Kehle. »Mir wird schlecht«, sagt sie.
    Er sitzt immer noch auf der Bettkante, doch sie vermeiden sorgfältig jede Berührung. Er sieht sie an, wohl wissend, wie grausam seine Worte waren. Er kann nicht glauben, dass er sie tatsächlich ausgesprochen hat, aber er wurde von einem inneren Drang getrieben, den er einfach nicht mehr beherrschen konnte. Er musste es ihr sagen, es quoll einfach aus ihm heraus. Er bereut zwar, nicht zartfühlender gewesen zu sein, aber jetzt fühlt er sich seltsam erleichtert und befreit.
    »Wir haben immer noch vier wunderschöne Kinder«, sagt er, um sie zu trösten, doch bei diesen Worten ballt sich etwas in seiner Brust zusammen.
    Es ist nicht klar, ob Jekaterina ihn gehört hat. Das Ringen um Beherrschung geht über ihre Kräfte. Ihr ganzer Körper bebt. »Warum liebst du mich nicht?« Es sollte ein Aufschrei sein, doch ihre Stimme klingt rau und gebrochen. Still gibt sie den Tränen nach. Ihr Gesicht verzerrt sich, wird dunkel. Ihr Kiefer zittert, und ihr Schmerz beeindruckt nicht nur durch seine Intensität, sondern auch durch ihr krampfhaftes Bemühen, ihn zu unterdrücken. »Ich habe Angst, Igor«, presst sie hervor.
    »Das brauchst du nicht.«

    »Ich fürchte mich.«
    »Wovor?«
    »Ich bin schwer krank. Ich merke, wie etwas an mir zerrt, mein Innerstes nach außen reißt.« Die Luft um sie herum scheint sie nicht mehr atmen zu lassen. Panik erfüllt ihre Brust.
    »Aber der Arzt sagt, die Prognose ist gut.«
    »Ich weiß, aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich habe meinen Tod gesehen.«
    »Was du gesehen hast, war nur eine Röntgenaufnahme.«
    Ihre Stimme wird plötzlich leiser. »Kann ich dich etwas fragen?«
    »Natürlich.«
    »Da ist nichts anderes mehr, oder?«
    »Was meinst du?«
    In ihren Augen leuchtet unendliche Sanftmut. »Ich meine, das hier ist alles, nicht wahr? Danach kommt nichts mehr.«
    »Nein, das kann ich nicht akzeptieren.«
    »Aber wenn du unsere Körper wegnimmst, unsere physische Existenz - wenn du das streichst, was bleibt dann noch?«
    Igor zögert, einen Moment lang ist er verwirrt. Sein Blick gleitet über die Ikonen, die um ihr Bett versammelt sind, über die Vorhänge, die sich im Wind bewegen. Draußen hört er die Vögel zwitschern. Dann kommt die Antwort, als sei sie so offensichtlich, dass selbst ein Kind sie geben könnte. Was bleibt, ist eine Welt, zusammengehalten durch zufällige Rhythmen und unsichtbare Fäden. Eine erhabene Inkarnation Seiner Stimme, die einsam über dem Nichts schwebt. »Die Musik, natürlich.«
    Sie starrt ihn verständnislos an. Ratlos und traurig schüttelt sie den Kopf.

    Seine Antwort kam aus dem tiefsten Innern, aber ihm ist bewusst, dass sie völlig unbefriedigend ist. Er öffnet den Mund, um noch etwas hinzuzufügen, aber die Worte kommen einfach nicht. Nach einem langen Schweigen, das die Kluft zwischen ihnen noch tiefer werden lässt, steht Igor ernst auf und legt eine Hand an seinen Hals. Er schickt sich an, sie zu küssen, doch sie wendet sich ab. Eine Weile steht er reglos da. Dann verlässt er ohne ein weiteres Wort, ohne einen Blick zurück das Zimmer und geht wieder an seine Arbeit.
    Jekaterina weint. Innerlich ist sie wie erstarrt. Ihre Züge sind verzerrt, ihre Augen blutunterlaufen und wund. Ihr Schmerz scheint bodenlos.
    Im Erdgeschoss verspottet sie der selbstzufriedene Klang des Klaviers. Noch lange hebt und senkt sich ihre Brust in qualvollem, haltlosem, unmusikalischem Schluchzen.
     
    10. September 1920
    Geliebte Mutter,
    ich hoffe, es geht Ihnen gut. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass wir alle hier Sie vermissen. Jekaterina und die Kinder senden Ihnen Grüße und Küsse.
    Ich habe wieder an die Botschaft geschrieben und darum gebeten, dass man Ihnen ein Visum erteilt. Der Botschafter ist ein vernünftiger Mensch. Er sieht keine besonderen Schwierigkeiten, aber er sagt auch, dass sich im Ministerium eine Vielzahl solcher Fälle stapelt, und sie lassen sich Zeit damit, jeden einzelnen zu bearbeiten. Haben Sie Geduld, und wir beten weiter dafür, dass Sie sehr bald zu uns kommen können.
    Den Kindern geht es gut. Théo entwickelt sich zu einem ordentlichen Burschen. Er widmet sich mit wachsender Begeisterung dem Zeichnen. Erst gestern hat er eine hervorragende
Zeichnung von diesem Haus beendet, die ich Ihnen

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