Coco Chanel & Igor Strawinsky
Vierundzwanzig Blasinstrumente muss er zu raffiniert miteinander verwobenen Klangschichten kombinieren. Aber er kann sie nicht deutlich genug hören, sieht keine Möglichkeit, wie sie sich einander annähern könnten. Wenn er versucht, sich die einzelnen Stimmen im Verhältnis zum Ganzen vorzustellen, verschwimmen sie entweder zu einem undifferenzierbaren Lärm oder erscheinen ihm so eigenständig, dass sie nie zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden können.
»Es hat keinen Sinn«, murmelt er.
Er hofft immer noch, dass sich die unverbundenen Bruchstücke unvermittelt zusammenfügen wie die Elemente eines Kaleidoskops und so ein bedeutungsvolles Ganzes ergeben. Aber trotz aller Bemühungen hat sich ihm das Muster bis jetzt entzogen.
Er verspürt das Bedürfnis, seiner Musik das Verschwommene zu nehmen. Er will zu etwas Klarem und Reinem durchdringen, und seiner Überzeugung nach führt der einzige Weg zu diesem Kern über die Bändigung widerstreitender Rhythmen und die Erzeugung von Spannung durch gegenläufige Melodien.
Wieder schaut er auf den Sacre . Unvermittelt kommt ihm etwas in den Sinn. Rhythmus. Das ist es!
Die Erkenntnis trifft ihn mit der Wucht einer Offenbarung. Nicht Harmonie, sondern Rhythmus ist das strukturierende Element. Der Rhythmus ist es, der alles zusammenhält.
Wir alle gehen im Takt einer Melodie, die wir in unserem Kopf hören, denkt er. Aber der Rhythmus ist für jeden von uns ein anderer. Also ist es vielleicht die Liebe, in der zwei Menschen zu vollkommener Synchronizität gelangen.
Nach dieser Erkenntnis fühlt er sich befreit, doch sie weckt in ihm auch eine diffuse Angst. Denn sie zwingt ihn dazu, sich mit seiner eigenen Existenz in der Zeit auseinanderzusetzen, macht ihm die Tempoveränderungen bewusst, die sich in seinem eigenen Leben vollzogen haben. Mit einer Hast, die an seinen Puls gekoppelt zu sein scheint, beginnt er die Dauer der einzelnen Noten anhand der Vorgaben des Metronoms zu überprüfen. Er weiß, dass es Nuancen gibt, verschwindend kleine Variationen im Takt, die in der Notation nicht vollständig eingefangen werden können. Die von den Achtel- und Sechzehntelnoten angegebenen Teilungen sind
nicht absolut. Es gibt winzige Spannen dazwischen, hauchdünne Freiräume, die nicht aufgeschrieben oder festgelegt werden können. Und er spürt, dass in diesen Freiräumen der Schlüssel zu etwas Neuem, bislang noch Unentdecktem liegt. Wenn er nur nah genug herankäme, um diese geheimen Zwischenräume zu erkunden, diese Zwischenstücke in der Zeit.
In dem Moment hört er, wie die Haustür geöffnet wird. Mit einem plötzlichen Lärmschwall stürmen die Kinder herein. Durch das Fenster sieht er Jekaterina. Sie geht langsam, aber ohne fremde Hilfe. Eine lichte Aura umgibt sie wie immer, wenn sie aus der Kirche zurückkommt. Frömmigkeit steht ihr gut. Sie hüllt sie in einen besonderen Glanz.
Er geht hinaus, um die Kinder zu begrüßen. Dann drückt er sich flach gegen die Tür, um Jekaterina hereinzulassen. Sie ignoriert ihn und hält den zusammengefalteten Sonnenschirm wie einen Schutzschild zwischen sie. Blass gleitet sie an ihm vorbei wie ein Geist.
Es scheint, als bewegten sie beide sich in verschiedenen Welten, in verschiedenen Zeiten. Sie sind falsch ausgerichtet, nicht synchron, so als existierten sie füreinander nicht mehr. Zwei Melodielinien, die in verschiedene Richtungen auseinanderstreben, ohne jede Aussicht auf Auflösung.
Zurück in seinem Arbeitszimmer verstellt er das Tempo des Metronoms. Es schlägt nun langsamer als sein Puls. Auf dem Weg zum Mittagessen begleitet ihn das monotone Ticken wie eine Halluzination in seinem Kopf.
Die Sonne steht tief. Die Bäume sind beinahe kahl. Am Himmel zieht ein Keil aus Gänsen unter lautem Geschrei vorüber.
Joseph hilft Marie mit der Wäsche. Die Bettwäsche ist groß
und unhandlich, und als sie ein Laken auffalten, steigt eine feuchte Wolke wie ein Duft aus den Falten auf. Joseph hält ein Ende, Marie das andere. Zusammen schlagen sie die Falten heraus, gehen aufeinander zu und legen die Ecken aufeinander wie in einem feierlichen Tanz.
»Hat sie dir gegenüber schon den Urlaub erwähnt?«, fragt Joseph.
»Nein. Hat sie nicht«, nuschelt Marie mit zwei hölzernen Wäscheklammern im Mund. Die in regelmäßigen Abständen aufgesteckten Klammern bilden schattige Dellen in den Laken.
»Wir haben noch Anrecht auf ein paar freie Tage vor dem Jahresende.«
»Dann solltest du mit ihr reden.«
»Ich?«
Den
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