Coco Chanel & Igor Strawinsky
»Ich gehe jetzt besser. Sie können jede Minute zurück sein.«
»Ja.«
Die Angst vor der Entdeckung wird allmählich von einer neuen Angst verdrängt: dass er nicht an Cocos frühere Liebhaber heranreicht. Manchmal gibt sie ihm das Gefühl, ihren Anforderungen nicht zu genügen, unerfahren zu sein, ungeschickt. Und er hat es immer noch nicht geschafft, das Gefühl abzuschütteln, dass das, was er tut, falsch ist.
Wie ein Pendel schwingt sein Herz in einem unveränderlichen Bogen zwischen den beiden Frauen in seinem Leben hin und her: Jekaterina, seiner Frau, und Coco, seiner Geliebten. Er hegt die unsinnige Hoffnung, dass die beiden Frauen irgendwann durch ein Wunder zu einer einzigen verschmelzen könnten: mit Jekaterinas Feingefühl und Cocos Leidenschaft, mit Jekaterinas sanfter Intelligenz und Cocos angeborenem Charme, mit Jekaterinas Empfindsamkeit und Cocos Geschmack. Doch leider scheint die Kluft zwischen ihnen mit jeder Stunde größer zu werden. Und wie ein gefangenes Atom prallt sein Herz gegen den Käfig seiner Rippen und hinterlässt ein brennendes Gefühl in seiner Brust.
Er wendet sich zum Gehen, dann macht er noch einmal kehrt und küsst sie. Eigentlich nicht mehr als eine förmliche Geste, aber sein Gesicht verweilt neben dem ihren, und der Moment wird innig.
»Warum kannst du dich nicht einfach entspannen?«, flüstert sie.
Er atmet tief ein und riecht den Moschusduft ihres Körpers.
Für einen Augenblick erwachen ihre Verletzlichkeit und seine Lust aufs Neue.
»Es tut mir leid«, wiederholt er. »Es belastet mich, dass wir alle im gleichen Haus wohnen.«
»Jetzt sind sie doch fort.« Sie ist seine gehetzte Art leid.
»Ich weiß, aber sie kommen bald wieder zurück.« Er schließt den Hemdknopf, den er zuvor übersehen hatte.
»Ich dachte, du hättest gesagt, sie weiß Bescheid«, sagt sie verwirrt.
»Ja, sie weiß es, aber ich will es ihr nicht auch noch unter die Nase reiben.«
»Schon gut.« Sie seufzt und dreht sich von ihm weg. Manchmal hat sie das Gefühl, als sei sie für ihn nicht so real wie Jekaterina.
»Lass uns später darüber reden«, sagt er und geht zur Tür. Sie wechseln ein schwaches Lächeln, bevor er hinausgeht.
Er kehrt in sein Arbeitszimmer zurück und öffnet das Fenster, aus Angst, ihr Parfüm könnte noch in der Luft hängen. Aber auch hier findet er keine Ruhe, denn sofort sieht er sich mit einem weiteren Problem konfrontiert: seiner Arbeit. Er versucht, die Sinfonien abzuschließen, während er gleichzeitig den Sacre überarbeitet und außerdem noch Partituren für mechanisches Klavier transkribiert. Er fühlt sich überfordert und gesteht sich ein, dass er nicht weiß, ob er all diesen Anforderungen gewachsen ist.
Von Schluckbeschwerden geplagt, sitzt er sehr gerade und betastet seinen Hals. Mit der rechten Faust schlägt er auf sein Brustbein. Er boxt sich selbst und drängt ein widerspenstiges Stück Essen den Weg hinunter zu seinem Magen. Heute Morgen hat er beim Zähneputzen bemerkt, dass das Wasser, das er ausgespuckt hat, rosa war. Irgendwo muss sein Zahnfleisch bluten. Er schüttelt den Kopf. Er erinnert sich daran,
was Jekaterina gesagt hat. Er ist davon überzeugt, dass auch er innerlich verwest und Stück für Stück zerfällt. Der Knoten in seiner Brust und jetzt dieses Blut. Die Beweise häufen sich.
Er blättert prüfend in seinen Skizzenbüchern. Seine privaten und beruflichen Leiden ähneln sich. Was noch vor einigen Tagen auf dem Papier brillant zu sein schien, kommt ihm auf den zweiten Blick sehr viel weniger gut vor.
Er ist verzweifelt über die mangelnde Struktur in seinen Kompositionen. Nachdem er in den vergangenen Tagen spontane Einfälle kombiniert hat, Fragmente in Fragmente eingefügt hat, zweifelt er nun, ob überhaupt etwas davon zusammenhängt. Er ist wie blockiert und hat keine Ahnung, wie er jetzt weitermachen soll. Die Turbulenzen und der unordentliche Verlauf seines Lebens haben sein klares Denken getrübt. Die komplexen Verwicklungen in Bel Respiro scheinen auf seine Musik überzugreifen und machen sein Werk ungewohnt überladen und kraftlos.
Ihm fällt auf, wie still es ringsum ist, wie ein Vakuum, das alles verschluckt. Und plötzlich wird ihm bewusst, dass das Summen der Insekten verstummt ist. Es scheint, als hätte jemand den Fuß vom Fortepedal des Sommers genommen. Diese Erkenntnis schockiert ihn. Wie konnte er das verpassen? Wann hat es aufgehört? Und warum?
Wieder sieht er auf seine Skizzenbücher.
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