Coco Chanel & Igor Strawinsky
seit Wochen denkt sie an Boy. Wie konnte er nur eine andere heiraten? Er liebte sie . Es ergab keinen Sinn. Es war falsch. Welcher absurde Snobismus hat ihn davon abgehalten, sie zu heiraten? Nur weil sie vor ihm schon andere Männer gehabt hatte und aus keiner angesehenen Familie stammte? Plötzlich wird sie wütend und würde am liebsten verächtlich ausspucken.
Voller Schmerz erinnert sie sich an die Tage nach seinem Tod. Man hatte ihr erlaubt, seine persönlichen Sachen durchzusehen, damit sie alles aussortieren konnte, was ihr gehörte.
Dabei war sie auf einige Briefe gestoßen. Beim Überfliegen entdeckte sie bestürzt den Rat eines gemeinsamen Freundes: »Eine Frau wie Coco heiratet man nicht …«
Sie konnte es nicht fassen, dass jemand so etwas geschrieben hatte. Und noch viel weniger konnte sie glauben, dass Boy sich diesen Rat zu Herzen genommen hätte. Doch irgendwo tief in ihrem Innern, in einem dunklen Winkel ihres Herzens, wusste sie, dass er genau das gedacht hatte. Ihr fehlte der nötige Stammbaum. Menschen aus gutem Hause waren nicht so dumm, unter ihrem Stand zu heiraten. »Eine Frau wie Coco heiratet man nicht …« Der Satz hatte ein glühendes Eisen in ihre Seele getrieben.
Plötzlich hört sie vom Ende des Flurs her das Donnern des Klaviers. Der Schreck holt sie zurück in die Gegenwart. Auf ihrer Hand spannt die Haut. Der Geruch von verbranntem Haar steigt ihr in die Nase. Langsam schüttelt sie den Kopf.
Sie weiß, dass sich ihre Beziehung zu Igor kaum noch weiterentwickeln kann. Schon bei dem Gedanken daran, jemand könnte etwas von ihrer Affäre erfahren, gerät er außer sich. Schämt er sich heimlich für sie? Sie weiß, dass Jekaterina auf sie herabsieht, sie als nicht standesgemäß verachtet, wie alle, deren Blut keinen Blaustich aufweist. Sie hört die Überlegenheit aus jeder ihrer Bemerkungen heraus, erkennt sie daran, wie Jekaterina darauf besteht, mit Igor russisch zu sprechen, sobald Coco in der Nähe ist. Vielleicht gibt ihr das die Kraft, die Demütigung zu ertragen. Vielleicht weiß sie, dass ihre Position als seine Ehefrau trotz dieser Affäre nie in Gefahr sein wird. Und deshalb ist Coco für sie auch keine ernsthafte Bedrohung.
Diese Erkenntnis ist umso schmerzlicher, als Coco durch den frühen Tod ihrer Mutter, die ständige Abwesenheit ihres Vaters und die anschließende Aufnahme ins Waisenhaus unter
einem starken Gefühl der Verlassenheit leidet. Sie hat ein tiefes Bedürfnis nach Liebe und körperlicher Leidenschaft. Doch sie weiß auch, dass diese Bedürfnisse durchzogen sind von dem ebenso starken Wunsch, niemals verletzt zu werden und nie wieder von einem anderen Menschen abhängig zu sein. Sie kann es notfalls allein schaffen. Ihr ganzes bisheriges Leben hat sie gegen Verluste gewappnet. Sie ist stark genug, sie zu ertragen, das weiß sie. Und talentiert, ruft sie sich in Erinnerung, auch wenn Igor hin und wieder versucht, ihre Arbeit schlechtzureden.
Nachdem sie erst Ludmillas Haare verbrannt hat, zündet sie nun geistesabwesend das lose Ende eines Wollknäuels an, als wäre es eine Zündschnur. Sie sieht zu, wie der Funke zu einer Flamme wird und glimmend den Faden entlangläuft. Aber er kommt nicht sehr weit. Nachdem die winzige Flamme etwa dreißig Zentimeter Wolle verschmort hat, erlischt sie. Trotzdem bleibt etwas davon in Coco haften. Als hätte sie das Feuer verinnerlicht. Sie nimmt eine Schere und schneidet das verbrannte Ende ab.
Coco mustert den kursiv gesetzten Aufdruck auf der Karte. Ihre Stimme klingt gepresst. »Sieht so aus, als wärst du eingeladen, aber ich nicht.«
Igor hält eine Zigarette in den gespreizten Fingern, die Beine hat er geckenhaft übereinandergeschlagen. In der Oper wird eine Party veranstaltet, und alles, was in der Kunstwelt Rang und Namen hat, wird dort sein, auch Satie, Ravel, Picasso und Cocteau.
»Es würde dir bestimmt nicht gefallen«, erklärt er. »Es wird furchtbar langweilig. Nur ein Haufen Künstler, die sich gegenseitig auf den Rücken klopfen und übers Geschäft reden.«
Ihre Stimme klingt hörbar tiefer als zuvor. »Nein, das wäre sicher nicht mein Stil, da hast du recht. Ein bisschen zu intellektuell für mich. Ein bisschen zu kultiviert. Ich will dich doch nicht blamieren.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ich weiß, dass sie keine Geschäftsleute einladen. Du brauchst also nicht so gönnerhaft zu tun.«
»Was redest du da?«, fragt er verwirrt.
»Ich merke doch, wenn ich brüskiert
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