Coco Chanel & Igor Strawinsky
dürfen. Er beugt sich vor und hebt die Fetzen vom Boden auf.
Sie lässt sich zu leicht von Fassaden blenden, denkt er, sich zu schnell vom äußeren Glanz beeindrucken. Es fällt ihm schwer, das Entwerfen von Mode ernst zu nehmen. Er kann nicht abstreiten, dass ihre Kleider hinreißend sind, aber das hat doch mehr mit Eitelkeit zu tun als mit künstlerischem Anspruch. Die Herstellung hat etwas viel zu Konkretes. Er kann nicht umhin, Kleider als eine Selbstverständlichkeit anzusehen. Das Parfüm hingegen umgibt ein Mysterium, eine Flüchtigkeit, eine unsichtbare Qualität, die ihm gefällt. Es spricht die Sinne auf die gleiche Weise an wie Musik, und er ist bereit zuzugeben, dass es eine gewisse Kunstfertigkeit, ja sogar Genie erfordert, es zu kreieren. Das Problem ist, dass sie inzwischen so sehr von der geschäftlichen Seite ihres Projekts besessen ist, dass er das Interesse daran verloren hat. Sie scheint kaum noch von etwa anderem zu reden.
Er senkt den Blick und verändert die Haltung seines Knöchels um ein paar Grad, bis der Winkel mit den Schatten im Zimmer übereinstimmt. Er schließt ein Auge, um eine perfekte Parallelität zu erzielen. Dann hört er draußen einen Schrei. Er springt auf und sieht aus dem Fenster. Wassili kämpft mit einem der Schäferhunde. Ihre Auseinandersetzung, ein wildes, schemenhaftes Wirbeln, wird von wütendem Knurren und Bellen begleitet.
Igor stürzt hinaus in den Garten, und es gelingt ihm, die Tiere voneinander zu trennen, ehe etwas Ernsteres passiert. Aber den Kater hat es schlimm erwischt. Das arme Tier hat mehrere klaffende Wunden über dem Auge, und wo an seinem
Hals ein Stück Fell fehlt, sieht er eine offene, blutverschmierte Stelle.
Igor verzieht das Gesicht. Das musste ja früher oder später passieren.
Kläglich miauend tastet der Kater mit den Pfoten nach seinen Wunden. Igor streichelt ihn und begutachtet die leuchtend roten, bereits anschwellenden Striemen auf seiner Haut. Wassilis Krallen sind noch ausgefahren, als Igor ihn hochhebt. Schützend birgt er den Kater in seinen Armen wie ein neugeborenes Kind und trägt ihn zurück ins Haus.
Kapitel 26
MIT ENERGISCHEN SCHRITTEN betritt Coco ihren Laden in der Rue Cambon Nummer 31. Sie trägt eine eng anliegende dunkle Jacke, eine weiße Bluse mit offenem Kragen und einen ausgestellten, leicht gefältelten beigefarbenen Rock, dessen Saum auf halber Wade endet. Beiläufig erwidert sie die Grüße der Verkäuferinnen, bleibt aber nicht stehen, um sich mit ihnen zu unterhalten. Sie durchquert den Salon und geht die Treppe hinauf in ihre Privaträume. Mit einem dicken Stück Schneiderkreide in der Hand kniet Adrienne auf einer Stoffbahn. Mit sicherer Hand zeichnet sie rasche Striche auf das Gewebe. Als sie Schritte auf der Treppe hört, schaut sie auf. »Coco?«
»Adrienne.«
Adrienne steht auf und wischt sich die Kreide von den Händen. Die beiden Frauen umarmen einander. Dann löst sich Coco von ihr, sucht etwas in ihrer Tasche und holt eine kleine, mit gebürstetem Samt überzogene Schachtel heraus. Nachdem sie den Verschluss geöffnet und Adrienne den Inhalt gezeigt hat, folgt ein Moment andächtigen Schweigens, als habe sie die Reliquien eines Heiligen enthüllt.
»Die neuen Muster - sie sind angekommen.«
»Endlich!«
»Hier. Probier etwas davon.«
Coco zieht den Stöpsel aus einem der Flakons. Das Glas ist warm in ihrer Hand. Sie dreht die Flasche für eine Sekunde kopfüber, sodass ein paar Tropfen herauslaufen und ihre Fingerspitze
benetzen. Dann tupft sie einen Hauch davon auf Adriennes Handgelenk. Adrienne hält es sich unter die Nase und atmet ein.
»Na?«
»Das riecht … gut«, sagt sie. Sie schnuppert aufmerksamer. »Aber ich kann den Geruch nicht so recht zuordnen«, fügt sie zögernd hinzu.
»Das wundert mich nicht. In diesem Fläschchen sind über achtzig Inhaltsstoffe enthalten.«
Adrienne zieht eine Augenbraue hoch. »Dafür ist es ein sehr zarter Duft«, sagt sie.
»Aber angeblich soll er länger halten.«
»Und du glaubst wirklich, dass er sich verkaufen wird?«
»Ich bin mir ganz sicher. Auf die ersten Muster, die wir verschickt haben, habe ich sehr positive Reaktionen bekommen.«
Coco stöpselt das Fläschchen wieder zu, legt es zurück in die Schachtel und schließt den Deckel. »Ich würde vorschlagen, wir versprühen es in den Umkleideräumen. Wenn die Kundinnen uns dann fragen, was das für ein Duft sei und ob sie ihn kaufen könnten, sagen wir, wir hätten nur eine kleine
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