Coconut Caye - Insel der Lust
fühlen.”
“Fühlst du dich wegen Patrick wie ein Versager? Glaubst du, du hättest ihn im Stich gelassen?”
“Das glaube ich nicht nur, sondern ich habe es getan. Ich habe auf ganzer Linie versagt, als er auf mich angewiesen war”, sagte er verbittert und sah an ihr vorbei auf die Palmen, die sich deutlich vor dem tropischen Nachthimmel abhoben.
“Offen gesagt, fällt es mir schwer, dir das abzunehmen”, sagte sie. “Ich kenne dich zwar nicht besonders gut, aber doch gut genug, um zu wissen, dass du deinen Bruder nie aufgeben würdest. Ich bin sicher, du hast Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn zu finden.”
Vollkommen unrecht hatte sie damit nicht. Er hatte unzählige Spuren verfolgt, die allesamt in eine Sackgasse mündeten. “Ich habe lange nach ihm gesucht. Sehr lange. Es war wie verhext. Ich fand nicht einmal den kleinsten Hinweis auf ihn, als wäre er vom Erdboden verschluckt worden.”
“Was ist damals passiert?”, fragte sie vorsichtig.
Er war beinahe erleichtert, dass sie nicht lockerließ und er endlich jemandem davon erzählen
musste. “
Wir hatten ein kleines Segelboot gemietet, mit dem wir zu den Jungferninseln übersetzen wollten. Den Bootseigentümer hatten wir gleich mitgechartert, damit wir ungestört trinken und feiern konnten, ohne vom Kurs abzukommen. Außerdem wusste er, wo man dort tolle Frauen aufreißen konnte.”
Sydney verschränkte die Arme vor der Brust und tat, als wäre sie ernsthaft empört. “Alkohol und Weiber! Ihr Männer seid doch alle gleich.”
Ihm gefiel diese gespielte Arroganz, weil er wusste, dass Sydney in Wahrheit kein bisschen überheblich war. “Ich leugne nichts. Wir haben ziemlich viel getrunken und ziemlich viel herumgebumst. Patrick dachte schon, er wäre, ohne es zu merken, gestorben und im Paradies gelandet.”
“Was ist dann geschehen?”, fragte sie, als er einen Moment innehielt. “Wenn du nicht davon erzählen willst, kann ich es verstehen. Aber ich würde wirklich gern wissen, was vorgefallen ist.”
“Wir wurden von Piraten überfallen.”
“Was?”
“Tja, kaum zu glauben, aber wahr. Auf der Rückreise begegneten wir einem anderen Boot. Sie signalisierten uns mit Flaggen, dass ihr Funkgerät defekt sei. Außerdem stieg schwarzer Qualm aus dem Laderaum auf.”
“Da bist du natürlich sofort drauf angesprungen.”
“Natürlich. Aber wie sich herausstellte, kam das Feuer aus einem Ölfass unter Deck. Sie waren jedenfalls keine Amateure, denn sie hatten dafür gesorgt, dass möglichst viel Qualm entstand. Auf jeden Fall haben sie uns geentert und uns komplett ausgeraubt. Dann nahmen sie Patrick als Geisel mit zu sich an Bord und meinten, sie würden ihn für vierundzwanzig Stunden zur Sicherheit behalten, damit wir nicht die Küstenwache alarmierten. Er lachte uns zum Abschied noch zu und meinte, ihm würde schon nichts passieren. Wir sollten einen Tag lang vor Anker bleiben und ihn anschließend an einem bestimmten Hafen abholen. Aber als wir dann am nächsten Tag dort ankamen …”
“War er nicht da”, ergänzte Sydney für ihn, weil seine Stimme immer leiser geworden war.
Drei Jahre waren vergangen, doch der Schmerz schnürte ihm nach wie vor die Kehle zu. Er schluckte, dann fuhr er fort: “Ich verstehe gar nicht, wie ich überhaupt so naiv sein konnte. Schließlich konnten wir alle diese Typen identifizieren, besonders Patrick. Das waren Profis, die nie riskieren würden, einen Augenzeugen überleben zu lassen.”
Ray schwieg einige Minuten, ehe er die Kraft hatte weiterzureden. “Ich vermute, sie haben ihn erschossen und an die Haie verfüttert. Das ist zumindest die einzige Erklärung, die ich dafür habe, dass in drei Jahren nicht die geringste Spur von ihm zu entdecken war.”
Er beugte sich vor und vergrub das Gesicht in den Händen. “Mein Gott, er war erst zweiundzwanzig. Sein Leben fing gerade an. Ich kann nur hoffen, dass es wenigstens schnell ging und er nicht leiden musste.”
“Du darfst dich nicht so furchtbar quälen.” Sydney kam näher, setzte sich auf seinen Schoß und legte tröstend die Hände auf seine Brust. “Wenn ich gewusst hätte, was für entsetzliche Erinnerungen die Karibik in dir weckt, hätten wir woandershin reisen können.”
“Ja? Und wo wären wir dann wohl jetzt? Zwölf Meilen vor der Küste?” Er lachte kurz. “Nein, ich liebe die Karibik, und vielleicht hilft mir diese Reise sogar, einiges von all dem zu verarbeiten.” Erst als er die Worte aussprach, wurde
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